Kopernikus 1
Moderatorin: „Bevor Sie uns die Ziele Ihrer Anhänger näher erläutern, würde ich gern erfahren, wie und weshalb Sie gerade jetzt nach Thyrsfeld gekommen sind? Hängt Ihr Besuch mit dem ominösen Verschwinden der Moorleiche zusammen?“
Ratgars Antwort: „Ich bin hier, um den Heidentempel zu besuchen.“
Moderatorin: „Das ist die Kapelle im Moor, die irgendein Graf um 1215 errichten ließ, bevor er zu einem Kreuzzug aufbrach.“
Ratgar: „So heißt es. Das war immerhin vor beinahe achthundert Jahren. Aber in jener Zeit waren alle Kirchen dieser Gegend Langhäuser. Die besagte Kapelle jedoch ist zwölfeckig.“
Moderatorin: „Auch fehlen in ihr alle christlichen Symbole!“
Ratgar: „Bis auf das Jahrhunderte alte, mächtige Holzkreuz.“
Moderatorin: „Ihm gegenüber soll im sechzehnten Jahrhundert noch ein Götzenbild gestanden haben, stimmt das?“
Ratgar: „Alte Dokumente erwähnen einen berühmten Runenstein. Den Namen Heidentempel aber bekam die Moorkapelle erst, als sie einst zur Zufluchtsstätte der Katharer wurde, der sogenannten Ketzer. Dabei handelte es sich um eine mächtige Sekte, die im zwölften Jahrhundert entschlossen dem Papst die Stirn bot. Im Griechischen bedeutet Katharer aber ‚die Reinen’. Deshalb nennen wir uns Neo-Katharer. Im Osten droht das Christentum mit dem Zen-Buddhismus zum Christ-Zen-tum zu verschmelzen. Das ‚Donnernde Schweigen’ des Vimalakriti soll Gottes Wort übertönen. Das werden wir nicht dulden! Wenn in Vatikanstadt die ‚Bank des Heiligen Geistes’ mit den Banken von Tokio, Shanghai und Bombay fusioniert, ist es zu spät für uns. Darum kämpfen wir für die reine Lehre. Morgen ist Sommersonnenwende, unser höchster Feiertag. Ich habe die Absicht, mich zur Meditation in den Heidentempel zurückzuziehen.“
Moderatorin: „Aber die Besitzverhältnisse besagter Moorkapelle sollen doch ziemlich unklar sein!“
Ratgar: „Der leider so plötzlich verstorbene Professor Bert Nevart stand unseren Ideen zuletzt sehr aufschlußreich gegenüber. Dafür kann ich Dokumente erbringen.“
Moderatorin: „Seinerzeit wurden die Katharer wütend verfolgt und zu Tausenden umgebracht. Befürchten Sie das auch für die Neo-Katharer- Bewegung?“
Ratgar: „Wir werden uns zu wehren wissen – weltweit!“
Die drei Geschwister konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, als richte sich dieser letzte Satz des großen, grauhaarigen Mannes mit dem von Zukunftsvisionen gezeichneten Gesicht an sie direkt. Ohne einen einzigen Lidschlag blickte Abt Ratgar unverhohlen in den Livingroom … bis es Gunda zuviel wurde und sie die Projektion vom Bildschirm schnipste.
Ulf goß stumm ein Glas Branntwein in sich hinein.
„R.T.G., jetzt ist die Katze aus dem Sack“, sagte Ulf schließlich. „Wahrscheinlich wollte er mit seinem Anruf nur testen, ob wir über Vaters Sympathisantentum Bescheid wissen.“
„Ich hatte keine Ahnung“, antwortete Gunda.
„Was sollen wir jetzt tun?“ fragte Ulf.
„Ich werde heute nacht dem Heidentempel einen Besuch abstatten!“
Gunda wollte schon herausplatzen, ob Olaf verrückt geworden sei. Aber als sie in sein entschlossenes Gesicht sah, schwieg sie.
„Ich werde dich begleiten“, meinte Ulf halbherzig.
„Ich werde allein gehen. Ihr könnt mir ja Rückendeckung geben, wenn ihr unbedingt wollt.“ Olaf versuchte zu lächeln, aber es mißlang ihm.
Ein leises Entsetzen stieg in Gunda hoch, das sie sich nicht erklären konnte und deshalb tapfer zu unterdrücken versuchte.
Durch das Rundfenster blinkte ein einsamer Stern. Auch Doktor Nevart kam sich ziemlich einsam vor, wie er da an der Wand lehnte und in den Turmhelm der Kapelle hinaufblickte. Um die zwölfeckige Dachkonstruktion genauer studieren zu können, war es zu düster. Klamm und kalt spürte er die Steine in seinem Rücken. Vergebens grübelte er nach dem Datum, an dem er mit seinem Vater zuletzt den Heidentempel besucht hatte. Jahre waren inzwischen vergangen.
Olaf hielt die Luft an …
Hatte er nicht die Atemzüge eines unsichtbaren zweiten gehört?
Unsinn! Es konnte sich nur um eine akustische Täuschung handeln. Weshalb reagierte er so nervös? Die gotteslästerlichen Riten, mit denen hier einst das Götzenbild der Trigla, einer dreiköpfigen Göttin, verehrt wurde, lagen laut Chronikbericht einige Jahrhunderte zurück. Nun ragte an dieser Stelle ein altes, mächtiges Holzkreuz auf.
„Schalten Sie das Licht nicht ein, Doktor Nevart“, forderte unvermittelt die
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