Kopernikus 4
unaufhaltsam näher, mit jedem Tag, unaufhaltsam und tödlich. Begonnen hat es als kleiner dunkler Punkt im Nichts dort draußen – und nun? Wenn wir uns nicht beeilen, von hier wegzukommen, dann wird uns das nie mehr gelingen!“
Erneut drängen sie mich, dieses unirdische Reich zu verlassen. Ist es wirklich möglich, daß sie den lockenden Ruf des grauen Landes nicht vernehmen; sind sie so sehr in ihren Ängsten gefangen, daß sie keine Augen für den Zauber dieser phantastischen Feenlandschaft haben?
Stumm erhebe ich mich und betrete das Stationsgebäude. Was hätte ich ihnen auch entgegnen sollen?
Langsam senkt sich die Nacht über die Station, der Mond, dieser bleiche Patron, steht hoch am Himmel und verzaubert die Landschaft mit seinem eisigen, fahlen Licht, ein glitzernder Niederschlag bedeckt Fels und Erde, er erzeugt ein schwaches Funkeln, reflektiert schwach das bleiche Leuchten. Mit einem Mal wirkt die trostlose Einöde völlig verwandelt, Kaskaden blauen Elmsfeuers springen von Felsnadel zu Felsnadel und überbrücken die Abgründe und Schluchten mit phantastischen, ätherischen Brückenkonstruktionen, die beim leisesten Windhauch zerreißen und wie glitzernde Spinnweben in der kühlen Abendluft wehen, bis sie schließlich erlöschen, um wieder der kristallenen, azurblauen Nacht zu weichen. Ein feiner, weißer Nebel bedeckt den Boden tief dort unten, und es ist, als halte die Natur den Atem an, als erwarte sie das Erscheinen eines überirdischen Märchenkönigs, der sie von äonenwährendem Leid befreit, fast scheint es, als würden die anastatischen Kräfte des Lebens den Sieg über Destruktion und Vernichtung davontragen, doch der kurze Augenblick vergeht, versinkt im Meer der Ewigkeit, ein weiterer jener ungezählten, hoffnungsvollen Augenblicke. Bald schon scheint das kalte Licht des Mondes wieder über die grenzenlose Einsamkeit.
Alpträume plagen mich während der Schlafperiode. Ich stehe allein auf einer sich ins Unendliche ausdehnenden Ebene, graue Felsen tanzen einen irrsinnigen Reigen rings um mich her, ich bin gezwungen, ständig im Innern des Kreises umherzuspringen, damit mich die gigantischen Blöcke nicht zermalmen. Weit im Hintergrund eine ruhende Insel im Chaos, von der ein verheißungsvolles Licht herüberwinkt.
Schweißgebadet erwache ich endlich, lange Zeit nicht mehr in der Lage einzuschlafen. Während ich gierig, mit zittrigen Fingern eine Zigarette rauche, um meine fiebrigen Nerven zu beruhigen, gehen mir die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Was sind Raum und Zeit schon mehr als Fiktionen der Psyche, ein durch Geist und Gedanken selbst errichteter schützender Käfig, dazu geschaffen, Ewigkeit und Unendlichkeit von diesem winzigen, zerbrechlichen Ding ‚Mensch’ abzuhalten, damit es in den Weiten des unbarmherzigen Alls nicht verzweifelt. Und dort unten in den zerklüfteten, unwirtlichen Ebenen ist der Brennpunkt des physischen Seins, wo Raum und Materie unzertrennbar miteinander verknüpft sind, gehalten vom mürben, zerbrechlichen Band der Illusion Zeit, angespannt seit undenklichen Ewigkeiten, die sirrenden, endlos schwingenden Saiten einer riesigen Äolsharfe, einst wohlklingend, aber heute atonal und schrill, dargestellt im Spiegel des grauen Landes und seiner traumartigen Existenz.
Ich fasse den Entschluß, morgen endlich selbst hinabzusteigen in die geheimnisumwitterte Ebene dort unten, eins zu werden mit dem namenlosen Geist des grauen Landes, selbst wenn es mich das Leben kosten sollte.
Der Morgen bringt eine unerfreuliche kalte Nässe mit sich, was allerdings nichts an meinem Entschluß ändert. Nach dem Frühstück, dessen frostiges Schweigen ein wohlabgestimmtes Pendant zum draußen herrschenden Klima bildet, packe ich die nötigen Gegenstände, nicht viel, da ich nicht vorhabe, allzu lange unten zu bleiben, besonders im Hinblick auf das zu erwartende Erscheinen der schwarzen Monolithen.
Etwas Nahrungskonzentrat, Flüssigkeitstabletten, eine kleine Waffe, von der ich nicht glaube, daß ich sie wirklich brauchen werde – was schon sollte mich dort unten im Totenreich bedrohen?
Noch während ich das wenige Gerät zu einem kompakten Bündel verschnüre, betritt Helen das Zimmer und stellt sich schweigend mit dem Rücken zur Tür, ihre hinter den Hüften verborgenen Hände umklammern nervös den Türgriff, sie sagt kein Wort, betrachtet mich nur seltsam, und auch ich bleibe stumm; alles, was es zu sagen gab, ist bereits gesagt, die letzten
Weitere Kostenlose Bücher