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Kopernikus 4

Kopernikus 4

Titel: Kopernikus 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
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seinem Alter den Arbeitskolonnen anzuschließen, und ganz sicher hatte er zu viele Skrupel, um eine Ausweismarke zu fälschen. Ich glaube auch nicht, daß er sich umgebracht hat, und ich weiß, daß er niemals freiwillig in einem Abwasserkanal gestorben wäre.
    Ich mache mir Sorgen seinetwegen. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, daß ihm etwas Ungewöhnliches widerfahren ist; ungewöhnlich ist höchstens, daß er seine Fußwege so lange überlebt hat. Wahrscheinlich ist er ganz einfach gestorben und von einer Reinigungsmaschine weggeräumt worden. Wir haben ein paarmal Suchmannschaften hinausgeschickt, aber sie haben nichts gefunden, und nach drei Monaten gab es eine Gedenkfeier; seine Frau beantragte die Versicherung und wurde in ein Zimmer in der Nähe des Flughafens verlegt. Mr. Coombes Stellvertreter übernahm die Fabrik, und wenn wir auch seit sechs Monaten keine Bonbonration mehr bekommen haben, essen wir doch ansonsten nicht schlecht.
     
    Ich glaube, es ist wegen der Landung im letzten Frühjahr, daß ich mir Sorgen um ihn mache. Er war der Hauptaugenzeuge, der einzige, der es aus der Nähe gesehen hat, und danach war er verstört und nicht mehr er selbst. Den ganzen Sommer hindurch war er reizbar, mürrisch, beinahe streitsüchtig. Manchmal unterbrach er Diskussionen, in denen es um etwas ganz anderes ging, nur um von der Landung zu reden, und wir bereiteten uns darauf vor, den Gürtel enger zu schnallen. Vielleicht habe ich den Eindruck vermittelt, daß er viel über sich redete, aber Sie müssen bedenken, daß ich ihn lange Zeit kannte. Vieles von seiner Vergangenheit habe ich mir aus gelegentlichen Hinweisen und Schlußfolgerungen zusammengereimt, aber bei der Landung könnte ich selbst dabeigewesen sein, so oft hat er uns erzählt, was er sah, was er tat und was er empfand.
    Um siebzehn Uhr einunddreißig am Tage der Landung befand er sich im Innern der Highwaykonstruktion, auf halber Höhe einer zehn Meter hohen Leiter, die ein unversehrt gebliebenes Teilstück des Fußgängerweges mit einem behelfsmäßigen Laufsteg verband. Er war barfüßig, weil es ihm die Illusion von Sicherheit vermittelte zu wissen, daß er beim Klettern mit Fingern und Zehen greifen konnte, und die Sandalen, die er sich in die Manteltaschen gestopft hatte, schaukelten bei jeder Bewegung hin und her und stießen gegen seine Schienbeine. Er wußte, daß es siebzehn Uhr einunddreißig war, weil das rostige Metall unter seiner Hand leicht zu vibrieren begann, und ein Stückchen Beton löste sich von dem Pfeiler, an dem er emporstieg, schlug auf einem Träger auf und verschwand in der Tiefe. Wenn er sich beeilte, dachte er, würde er vielleicht noch den Laufsteg erreichen können, bevor die Überschallmaschine vorüberkam, aber nach ein paar Sprossen begann Staub an der Wand des Pfeilers herabzurieseln, und er beschloß zu bleiben, wo er war. Mit halb geschlossenen Augen klammerte er sich an die Leiter und lauschte dem Pfiff des Zuges, der sich in Erwartung der Streckenfreigabe auf die Leitschiene niederkauerte. Er sah, wie der ganze Pfeiler erbebte, und dann zerrte ein krachender Lärm an ihm, und die Leiter – oder der Pfeiler selbst – geriet ins Wanken. Er spürte, wie sich Eisenklammern knirschend aus ihren Verankerungen lösten, aber noch bevor die Angst in ihm hochsteigen konnte, verebbte das Krachen zu einem brüllenden Wind, und der Wind erstarb, und er hörte, wie der Zug sich von seiner Schiene erhob. Er fuhr an, kratzte mit wildem Kreischen über die Schiene, stoppte, ächzte, hob sich wieder und zog dann in einer Staubwolke an ihm vorbei. Drinnen hinter den abgedichteten Fenstern konnte er dichtgedrängt Menschen erkennen; sie plauderten munter oder spähten hinaus auf den Highway, und anstatt das Gefühl seiner eigenen Freiheit zu verstärken, schien dieser Anblick ihn eher zu beklemmen. Freunde in der Nähe der Fenster erkannten ihn, sie winkten und riefen; er sah, wie sich ihre Münder weit öffneten und dann langsam wieder schlossen, wie ihre Hände gegen das Glas über ihren Köpfen schlugen und ihn zu sich hinzogen. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, war der Zug verschwunden. Er kletterte vorsichtig weiter, weil die Leiter bei jeder Bewegung schwankte.
    Der Laufsteg war wunderschön: ein Streifen aus durchscheinendem Kristall, der mit dem einen Ende oben an der Leiter und mit dem anderen, fünfzehn Meter weiter, an der Brüstung einer zerbombten Unterführungsstraße angebracht war.

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