Kopernikus 6
in den Mississippi-Hügeln hierher, in vierzig Jahren. Es gibt alle möglichen Wege, das zu schaffen. Ich fragte mich, welchen Annie Mae Gudger gegangen war. Glück? Räuberei? Göttliche Fügung? Harte Arbeit? Rechtswidrige Inbesitznahme und Wiedererlangung gegen Kaution?
Selvedge führte mich in das Sonnenzimmer. Ich fühlte mich wie Philip Marlowe, wenn er einen reichen Klienten trifft. Das Haus war voll mit der Art von Möbeln, wie sie irgendwann zwischen der Jahrhundertwende und den Fünfzigern gebaut wurden – die zeitlose Sorte. Sie sehen niemals großartig aus und niemals verkommen, und jeder Stuhl ist bequem.
Ich glaube, ich erwartete eine furchterregende Frau mit Ärmelschonern und einem grünen Augenschirm, die über einem mit Papieren übersäten Schreibtisch hockte und deren Einverständnis oder Zurückweisung Leben oder Tod für Tausende bedeutete.
Was ich vorfand, war eine bezaubernde Dame in einem grünen Hosenanzug. Sie war um die Sechzig und hatte immer noch strohgelbes Haar. Es sah nicht gefärbt aus. Ihre Augen waren so blau wie die meiner Lehrerin im ersten Schuljahr. Sie war drahtig und sah so aus, als gehörte das Wort fett nicht zu ihrem Wortschatz.
„Guten Morgen, Mr. Lindberl.“ Sie schüttelte mir die Hand. „Möchten Sie einen Kaffee? Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.“
„Ja, vielen Dank.“
„Bitte nehmen Sie Platz.“ Sie wies auf einen weißen Korbstuhl neben einem Glastisch. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit Kaffeekannen, Tassen, Teebeuteln, Croissants, Servietten und Tellern.
Nachdem ich eine halbe Tasse Kaffee auf einmal hinuntergestürzt hatte, sagte sie: „Sie müssen ja über etwas sehr Wichtiges mit mir sprechen wollen.“
„Entschuldigen Sie meine Manieren“, sagte ich. „Ich weiß, ich sehe nicht so aus, aber ich bin Biologie-Assistent an der Universität von Texas. Ornithologe. Ich arbeite an meinem M.A. Vor zwei Tagen habe ich Mrs. Jolyn Jimson getroffen …“
„Wie geht es Jolyn? Ich habe sie nicht mehr gesehen seit … Gott, das muß bald fünfzig Jahre her sein. Die Zeit vergeht.“
„Es schien ihr gutzugehen. Ich habe nur eine halbe Stunde mit ihr geredet. Das war …“
„Und Sie wollten mich sprechen wegen …?“
„Äh. Die … wegen des Geflügels, das Ihre Familie früher züchtete, als Sie noch in der Gegend von Water Valley wohnten.“
Sie sah mich einen Moment lang an. Dann begann sie zu lächeln.
„Oh, Sie meinen die häßlichen Hühner?“ sagte sie.
Ich lächelte. Ich lachte fast. Ich wußte, was Oedipus durchgemacht haben muß.
Jetzt ist es vier Uhr dreißig nachmittags. Ich sitze im Stadt-Motel 6 in Memphis. Ich muß telephonieren, ein bißchen schlafen und dann mein Flugzeug erreichen.
Annie Mae Gudger Radwin redete vier Stunden lang; sie beantwortete meine Fragen, klärte mich über die Familiengeschichte auf, und Selvedge durfte kein Telephongespräch durchstellen.
Das Hauptproblem war, daß Annie Mae 1928 davonlief, ein Jahr, bevor ihrem Vater der große Durchbruch gelang. Sie ging nach Yazoo City und arbeitete sich langsam und stufenweise nordwärts auf Memphis und ihre Bestimmung als Witwe eines reichen Börsenmaklers zu.
Aber ich greife vor.
Großvater Gudger war Aufseher für Colonel Crisby auf der Hauptplantage in der Nähe von McComb, Mississippi. Auch das war eine lange Geschichte. Haben Sie Geduld.
Colonel Crisby selbst war der Sproß einer Seefahrerfamilie, die ein Interesse an den Zedern des Libanon (die fast alle für Schiffsmasten für die Marine Seiner Majestät und anderer abgeholzt wurden) und an ägyptischer Baumwolle hatte. Auch an Tee, Gewürzen und anderen Handelsgütern, die sich so
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