Kopernikus 6
schliefen, atmeten flach, nahmen nichts zu sich und lebten doch – alterten auf natürliche Weise. Man konnte sie verstümmeln oder töten, transportieren, in Gewölben oder Mausoleen aufbewahren, aber nicht aufwecken. Bereits während der ersten zehn Jahre wurde die Zivilisation schnell abgetragen. Riesige Industrieunternehmen wurden preisgegeben und dem Rest überlassen, Städte dem Verfall, während kleinere, autonome Einheiten weiterbestanden. Nach den Zusammenbrüchen der ersten Jahrzehnte schlugen sich Krieg, Revolution und territoriale Auseinandersetzungen in neuen Grenzen nieder. In den zerfallenen Städten vergingen die Epidemien, und die Ordnung – wenn man sie noch so nennen will – erstarkte wieder. Dann, zwanzig Jahre nach dem Phänomen des ersten Träumers, begannen sie zu erwachen. Die Weltbevölkerung, die auf eine Zahl von kleinen Gemeinwesen zusammengeschrumpft war, vervielfachte sich plötzlich in eine Welt von verlassenen, ausgestorbenen Städten und den verrotteten Gehäusen unbenutzbarer Maschinen. Der Zusammenbruch und die nachfolgende Not waren von beispiellosem Ausmaß.“ Das Filmbild verschwand. Das Licht erschien wieder in den Lichtkegeln an der Decke der Vortragshalle.
„Sie waren Träumer“, sagte der alte Tanghe aus seinem Rollstuhl heraus. „Aus dem Chaos gerettet, das die Welt heimsuchte, hierher gebracht, auf meine Insel. Ausgewählt aufgrund ihrer spezifischen Kenntnisse vor dem Zeitpunkt ihres Erwachens. Genau in diesem Augenblick befindet sich mein Sohn in Osteuropa bei einer solchen Rettungsmission.“
Der erste Hubschrauber ging, gezeichnet mit den Einschlägen der Gewehrkugeln, herunter und spuckte Soldaten über die karge, surreale Einöde der Verteidigungsanlage des Mausoleums. Geschützfeuer explodierte um jeden herabsteigenden Mann. Der zweite Hubschrauber belegte das Gebäude mit automatischen Waffen, trieb Meißel aus Feuer in seine monolithische Fassade. Die Verteidiger handelten unkoordiniert, unter Druck und noch benommen von der Überraschung.
Benyons Hubschrauber landete ohne weitere Störung auf der weiten Fläche des Daches, und eine Kolonne von Männern strömte heraus, die Tanghe in Richtung Zentrum führte. Die Verteidiger stellten den Kampf ein; ihre Zahlen erschöpften sich, als ihre Aufmerksamkeit, wie geplant, auf den frontalen Angriff gelenkt wurde. Granaten zeichneten Spinnennetze in die Glasplatten, zerfetzte, uniformierte Männer lagen über den Geschützaufbauten. Tanghe führte die Männer durch den Komplex zu den Liftschächten, die tief in das Herz des Mausoleums reichten. Sie trafen auf keinen Widerstand, bis sie auf dem 23. Stockwerk anlangten, wo ein Feuergefecht das Eindringen um Minuten verzögerte, die ihnen wie zehn Jahre erschienen. Der zentrale Komplex wurde gut verteidigt. Die Eindringlinge schossen sich ihren Weg durch brutale Feuergewalt frei. Dann tauchte ein neues Problem auf, das des Standortes. Während die Truppen die Ausgänge freihielten, begannen Tanghe und Benyon die Datenbänke auszuwerten. Elektronische Impulse huschten über die Monitoren. Der Computer barg die genaue Lage von beinahe einer Million Träumer, die über Hunderte von Stockwerken verteilt waren, fünfzig davon unterirdisch. Sie suchten nur einen Namen.
Tanghe wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Der Marxismus kann als letztes Relikt des ‚Zeitalters der Vernunft’ betrachtet werden“, hatte sein Vater erklärt. „Die letzte Philosophie, die für sich in Anspruch nimmt, alles mit dem Verstand zu erfassen.
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