Kopernikus 9
auf die Knie gesunken; er wandte ihm das Gesicht zu, schien ihn aber trotzdem nicht wahrzunehmen. „Eines qualvollen Todes werden sie sterben“, intonierte er nach kurzer Pause weiter, „ohne Totenklage und ohne Begräbnis sein. Zum Dünger sollen sie werden, auf den Äckern zerstreut, durch Schwert und Hunger werden sie umkommen, und ihre Leichen werden den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes zum Fräße dienen.“
„Um Karma willen“, rief Rod und schüttelte den Meriten heftig an den Schultern, „reden Sie doch nicht so ein … defätistisches Zeug. Soll ich Hilfe holen?“
„Lassen Sie nur“, sagte der gebrochene Mann, „noch sind Sie mir freundlich gesinnt; aber Sie werden sich wider mich wenden. – Ja, so spricht Jahwe: Du darfst kein Trauerhaus betreten, dich nicht zur Totenklage einfinden und ihnen auch kein Beileid bezeigen. Denn ich habe meinen Frieden von diesem Volke zurückgezogen – spricht Jahwe –, die Liebe und das Erbarmen.“
Sein Blick, der sich während der letzten Sätze wieder in unbestimmte Ferne verloren hatte, kehrte erneut zu Rod zurück, und er sagte mit normaler Stimme: „Sehen Sie, mein sich bereits abwendender Freund, ich bin Christ – wie meine ganze Familie es war. Nun leben nur noch meine Tochter und ich …“ Er ergriff sein Hemd an der Knopfleiste und riß es mit einem Ruck auseinander, so daß die Knöpfe fortsprangen – auf seiner hageren Altmännerbrust hing an einem goldenen Kettchen ein reichverziertes Kreuz aus dem gleichen Material. „Sie müssen mich verhaften, Amtmann. Aber verschonen Sie mein letztes Kind, ich bitte Sie …“
Wieder entzogen sich seine Augen Rods Blick und sahen aus dem Fenster. Er schlug sich mit den Fäusten vor die Brust und schrie: „Groß und klein wird in dieser Zeit sterben, ohne ein Begräbnis zu finden. Man wird ihnen keine Totenklage halten …“
Der Amtmann wandte sich von dem Knienden ab, ging langsam zur Tür und stieg die Freitreppe hinunter zu den Feiernden.
Die Party schien auf ihrem Höhepunkt zu sein, die Menschen irrten mit Flaschen und Gläsern in den Händen und scheinbar ziellos durcheinander. Paare hatten sich in die durch Bambus-Paravents geschaffenen Nischen zurückgezogen, und Rod sah in mehreren dieser nur unvollständig vor neugierigen Blicken geschützten Separees halb oder ganz nackte Gestalten.
Traum wandlerisch schritt er zwischen den Menschen einher, nahm ein Glas Sekt, das ihm eine junge Frau mit bloßem Oberkörper und einem bunten Blumenkranz im Haar anbot, und betrachtete ein großes Gemälde, das neben der Musiktruhe hing.
Es zeigte einen Mann, der offenbar von dem Pferd gefallen war, das einige Schritte abseits am Wegrand stand und Gras rupfte, als wäre nichts vorgefallen. Der Mann lag mit gen Himmel gewandtem Gesicht im Staub und sah starr in das ungeheure Licht, das über ihm durch die Wolken brach.
„Ich kann Ihre Aura sehen“, sagte jemand neben Rod und lenkte ihn von der Betrachtung des Bildes ab. Die Sprecherin war ein sehr junges Mädchen in einer kurzen Tunika. Es sah ihn freundlich an und brach in Gelächter aus, als es seinen verwirrten Gesichtsausdruck sah. „Sie ist ganz klein und dunkel“, fuhr es fort, „etwas macht Ihnen zu schaffen – ein Konflikt …“
Rod sah in diese offenen und klaren Augen und wußte mit einemmal nicht, was er sagen sollte. Sein Blick wich in den Saal aus und irrte über die fremden Gesichter.
Plötzlich erblickte er Esther Goverts.
Sie stand bei einer Gruppe Gleichaltriger und schaute ihn an. Kein Muskel bewegte sich in ihrem Gesicht; der Mund war halb geöffnet, als sei seine Besitzerin im Begriff, eine Frage zu stellen.
Der Amtmann hob ihr sein Glas entgegen und bemerkte, daß es bereits leer war. Er reichte es dem Mädchen neben ihm, das es verdutzt entgegennahm.
Rod löste seinen Blick von der Tochter des Hauses, ging zurück zur Treppe und in den ersten Stock.
Der Priester kniete unverändert neben dem Buddha-Altar und betete zu einem fremden Gott.
Rod trat zu ihm; der Merite wandte ihm langsam sein Gesicht zu.
„Ich möchte beichten, Vater“, sagte Rod.
Helmut Krohne
Die Übung FIRE AND FORGET
Ort: Irgendwo entlang der Grenze eines altbekannten, geteilten Landes in Mitteleuropa. Auf welcher Seite, hüben oder drüben, ist gleichgültig.
Zeit: Kurz nach Mitternacht, in nicht allzuferner möglicher Zukunft.
Makabres Leitmotiv: „Der Weg ist schwer, aber die Zukunft ist immer strahlend.“
In einem
Weitere Kostenlose Bücher