Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopernikus 9

Kopernikus 9

Titel: Kopernikus 9 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
Vom Netzwerk:
dunklen Flur öffnet sich vorsichtig eine Tür. Zwei Männer verlassen den Raum, schließen langsam die Tür: der eine ist klein und blond, der andere mittelgroß und dunkel; beide sind barfuß und tragen verwaschene blaue Einheitsschlafanzüge.
    Sie gehen in einem normalen, nicht auffälligen Tempo den Flur entlang, an anderen, fortlaufend numerierten Türen vorbei, bis sie vor einer mit grünen Buchstaben beleuchteten Lichtzeile zögernd stehenbleiben: TOILETTE.
    Hinter der Tür rauscht leise Wasser.
    Sonst ist alles still, ganz still.
    Der Kleine schaltet die Neonröhren ein, geht zu einem der vielen Becken und pinkelt. Der andere öffnet nacheinander sämtliche weißlackierte Türen, hinter denen sich einsame weiße Klosettbecken befinden. Dann geht er zurück an die Eingangstür und blickt auf den Gang. Er macht eine schnelle, heftige und auffordernde Handbewegung. „Los! Keiner da.“
    Der Angesprochene zaubert einen dicken schwarzen Stift aus seinem einheitsblauen Schlafanzug und verschwindet hinter einer Tür, die er sorgfältig hinter sich verschließt. Drinnen betrachtet er einen Moment fast andächtig die kahle weiße Fläche der Innentür, bevor er mit lockerer, ruhiger Hand zu schreiben beginnt:
     
    CHAMÄLEON
    was glotzt du mich an?
     
    Ich weiß du wechselst die Farbe damit ich dich nicht sehe wenn du mich umschleichst
     
    … ich seh dich doch!
     
    Allerdings du weißt ich kann nicht fort von hier gefangen bin ich für vier Jahr und deshalb wartest du, wissend.
     
    Oh, CHAMÄLEON
    ich weiß deine Zunge beutegierig und schnell wird klebrig sein wenn der Tag gekommen ist.
     
    Als der kleine, blonde Mann sein Werk vollendet hat, schwitzt er vor Aufregung und Anstrengung, aber er lächelt auch. Er weiß, morgen schon wird jemand alles wieder entfernen, vielleicht wird auch wieder eine „Belehrung“ über „intellektuelle Subversion“ befohlen, während der man dösen kann.
    Aber bis morgen wird es jeder lesen können, möglicherweise bis gegen Abend. Das ist viel, sehr viel. Eine Kaserne kann wie ein Gefängnis sein, und Freiheit nur ein Wort, für das man den Kopf hinhalten soll.
    Wie gut, daß Fischer, der liebeskummerüberladene, melancholische Fischer, die Motive versteht, die ihn zu diesen nächtlichen Anschlägen gegen die Gefängnisordnung ringsum treiben und der ihn als treuer Eckermann beschützt. Denn was passieren könnte, wenn … Besser nicht daran denken. Wahrscheinlich würden sie einen öffentlichen Gedankenselbstmord befehlen, einen Schauprozeß der Kleinmütigkeit und Reue über die Verfehlungen an den Idealen der Nation, wie die Freiheit eine ist, die verteidigt werden muß, weil die anderen sie nehmen wollen könnten – die anderen, die von sich ebenso waffenstarrend behaupten, auch nur ihre Freiheit verteidigen zu wollen.
    Herbstmann, der kleine Blonde, findet diese Situation paradox und verrückt, und deshalb nimmt er sich auch das Recht, sich selbst paradox und verrückt zu verhalten: nämlich nachts heimlich subversive Gedichte an die Innentür der Kasernentoilette zu schreiben und morgens beim Appell die Nationalhymne zu singen und „Hurra!“ zu schreien.
    Fischer klopft ungeduldig. In der Tat, es wird Zeit. Wer scheißt schon fast zwanzig Minuten mitten in der Nacht? Nur nicht auffallen, sich nicht verdächtig machen, immer durchschnittlich sein. Also schnellstens schlafen gehen, wie alle anderen.
    Ohne daß es jemand bemerkt, kehren Herbstmann und Fischer leise zurück zu ihrer Stube. Nur das zarte Klatschen ihrer nackten Füße auf dem ausgetretenen Linoleum hört man auf dem dunklen Gang.
    Sonst ist alles still, ganz still.
    Auch in der Stube ist es ruhig.
    Noch zwei andere liegen schwitzend in der schwülen Nacht auf ihren Pritschen: Klaus Lichterfeld und Jürgen-Peter Obersen. Von Obersen hört man nichts, nur Lichterfeld, der stöhnt hin und wieder. Er hat sich zusammengerollt wie ein Säugling und die dünne Decke weit von sich gestrampelt. Unauffällig-traumverloren spielt er mit seinem Schwanz. Jürgen-Peter Obersen liegt da wie tot, weit ausgestreckt auf dem Rücken, und atmet flach.
    Herbstmann tritt ans Fenster und sieht hinaus. Zwischen zwei Hügelketten liegen die langgezogenen Gebäude unter dem dichten Dach alter Bäume still in der Nacht. Schwere Stiefelschritte hallen vom unsichtbaren Exerzierplatz herüber, knallen auf den Beton. Zeit der Wachablösung. Irgendwo heult ein Motor auf, und schemenhaft fressen sich Scheinwerfer in die

Weitere Kostenlose Bücher