Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopernikus 9

Kopernikus 9

Titel: Kopernikus 9 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Alpers
Vom Netzwerk:
den Wald, die sich am Horizont in einem Punkt verliert. Wie Sägemehl liegen die Reste der Bäume hinter dem donnernden Koloß verstreut. Es ist eine Schleimspur des Todes.
    Über allem strahlt groß und unbeteiligt die runde Sonnenscheibe auf wolkenlosem, blauem Grund.
    Obersen wundert sich, daß das C HAMÄLEON diesen Weg nimmt, denn Bäume sollen bei Übungen möglichst geschont werden. Einen Fluß durchqueren, das gehört zum Programm, aber einen Wald niederwalzen?
    Zum ersten Mal sieht Obersen die schreckliche Gewalt des C HAMÄLEON , das er bisher nur mit den Augen des Technikers gesehen hat, als ein Wunderwerk fortgeschrittener Technologie, das perfekt funktioniert. Jetzt sieht er Bäume sterben und weiß: So wie diese zermalmt werden, so werden auch alle nur denkbaren Gegner zermalmt werden.
    Die Publicity-Filme der Herstellerfirmen haben es oft genug und eindringlich gezeigt: Im Nahkampf ist das C HAMÄLEON ein schrecklicher, fast unüberwindbarer Gegner. Wie einst Hannibals Elefanten, so wütet es in den Reihen des Feindes, mäht wie ein altertümlicher Sichelwagen die Wahnwitzigen nieder, die sich nur noch in der Erde verkriechen oder aus ihren Weißblechdosenpanzern fliehen können – und das ist genau das, worauf die angespannt lauernden Piranhas warten, die mit ihren allgegenwärtigen und blitzschnellen Aktionen sofort zur Stelle sind und dem Tod eine reiche Ernte einbringen, so reich, daß auch die letzten Reste von Kampfesmut und Überlebenswillen der anderen in Sekunden zerrinnen müssen wie die Körner in einer Sanduhr.
    Das Schicksal der Menschen ist das Schicksal der Bäume.
    … und während Obersen angesichts der zermalmten Bäume, der von den pfeilschnellen Piranhas zerfetzten Vogelschwärme, angesichts der tosenden, entfesselten Vernichtung ringsum diese seltsamen Gedanken spinnt, beschleicht ihn ein nicht zu unterdrückendes Gefühl der Unruhe, der Beklommenheit, der dunklen Vorahnung. Auch ein Gefühl des Zweifels an allem, woran er bisher geglaubt hat: an die prinzipielle Fortschrittlichkeit der Technik, an die Notwendigkeit eines bis über die Zähne bewaffneten Militärwesens zwecks Verteidigung der Freiheit, an die demokratische Ordnung der Dinge in dem Gemeinwesen, aus dem er kommt. Dieser fundamentale Zweifel läßt, empordrängenden Lavablasen aus den Tiefen eines Vulkans gleich, bisher verschüttete, niedergedrückte Ängste und unbequeme Wahrheiten aus seinem Unterbewußtsein an die ruhige, durch den Alltag geglättete Oberfläche seines befriedeten Bewußtseins brodeln, wo sie unverzüglich damit beginnen, das bisherige geistige Fundament seiner Persönlichkeit zu zersetzen.
    Obersen schwankt. Ist der Boden, auf dem er steht, noch so fest wie vor wenigen Sekunden? Die Macht des Zweifels droht ihn zu überrennen, brandet mit tyrannischer Gewalt heran, ist zu stark für ihn, der schließlich auch nur ein schwacher Durchschnittsmensch ist.
    Obersen braucht einen Halt.
    Befehl. Gehorsam. Befehl und Gehorsam.
    Treue. Pflicht. Treue Pflichterfüllung bis in den Tod.
    Und das heißt: Keine Fragen stellen, Obersen! In gehorsamer Befehlserfüllung treu die Pflicht erfüllen! Das Objektiv der Kamera reinigen und zurück ins Glied!
    Das ist der Halt, den Obersen braucht, den man ihm vorbeugend eingebleut hat für den allzu menschlichen Fall des Zweifelns. Ein guter Soldat darf nicht zweifeln, denn könnte er sonst ein guter Soldat sein?
    Zweifelnde Soldaten gewinnen keine Kriege – vielleicht beginnen sie sie nicht einmal.
    Obersen hat seinen Halt wieder. Der Boden, auf dem er steht, scheint wieder fest. Seine Gedanken sind klar und zielgerichtet. Er funktioniert wieder. Fest umklammert er die Sprühpistole, wendet sich der kleinen, aluminiumverkleideten Kamera zu, die an der linken Seite des Geschützturms angebracht ist und die gesamte Flanke übersehen kann. Er fährt mit dem nackten Finger über das Objektiv. Es ist von einem schmierigen, öligen Chemikalienfilm überzogen.
    Diese Kloake von Fluß, denkt Obersen.
    Er setzt die Sprühpistole an und ätzt mit einer weiß schäumenden Reinigungsflüssigkeit den Schmierfilm weg. Da er den Lappen vergessen hat, wischt er vorsichtig mit dem Ärmel seines olivgrünen Uniformhemdes die konvex geschliffene Linse sauber. Es darf nichts an die Haut kommen.
    Reste der Reinigungsflüssigkeit tropfen auf die Legierung, und die Tropfen zerplatzen auf der waldgrünen Oberfläche und färben sie rot, hellrot. Der Boden unter der Kamera ist hellrot

Weitere Kostenlose Bücher