Kopf in der Schlinge
passen. Im Juni werde ich fünfzig. Das Altern bereitet mir kein Kopfzerbrechen, aber es bringt einen dazu, einen langen, kritischen Blick auf sein Leben zu werfen. Auf einmal paßt vieles nicht mehr zusammen. Ich weiß nicht mehr, was ich tue oder warum ich es tue.«
»Haben Sie Familie hier?«
»Nicht mehr. Ich bin in Indiana aufgewachsen, in der Nähe von Evansville. Meine Eltern sind beide tot — mein Vater seit 1976, meine Mutter seit letztem Jahr. Ich habe zwei Brüder und eine Schwester. Bei einem meiner Brüder, demjenigen, der hier gewohnt hat, wurde eine seltene Form der Leukämie diagnostiziert, und er war binnen eines halben Jahres tot. Mein älterer Bruder kam mit zwölf Jahren bei einem Bootsunglück ums Leben. Und meine Schwester starb mit Anfang Zwanzig an einer verpfuschten Abtreibung. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, ganz allein draußen an der Front zu stehen.«
»Haben Sie Kinder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, und das ist noch etwas, das ich in Frage stelle. Ich meine, jetzt ist es viel zu spät, aber ich grüble darüber nach. Nicht, daß ich mir je Kinder gewünscht hätte. Ich kenne mich selbst gut genug, um zu wissen, daß ich eine miserable Mutter wäre, aber momentan frage ich mich, ob ich es anders hätte machen sollen. Und Sie? Haben Sie Kinder?«
»Nein. Ich war zweimal verheiratet und bin zweimal geschieden, beide Male, als ich noch keine Dreißig war. Damals war ich noch nicht weit genug, um Kinder zu bekommen. Ich war nicht einmal weit genug für eine Ehe, aber woher hätte ich das wissen sollen? Mein gegenwärtiger Lebensstil macht Häuslichkeit gewissermaßen unmöglich, also ist es ganz gut so.«
»Wissen Sie, was ich bereue? Ich wünschte, ich hätte bei Familiengeschichten besser zugehört. Oder vielleicht wünsche ich mir, jemanden zu haben, dem ich sie weitergeben kann. Die ganze mündliche Überlieferung für die Katz. Ich frage mich, was mit den Alben voller Familienfotos geschieht, wenn ich einmal tot bin. Sie werden im Müll landen... sämtliche Onkel und Tanten futsch. In Trödelläden kann man manchmal welche bekommen, alte Schwarzweißfotos mit gewellten Rändern. Das weiße Holzhaus, der Gemüsegarten mit dem durchhängenden Maschendrahtzaun, der feierlich dreinblickende Familienhund«, sagte sie und verstummte. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Was haben Sie denn mit Ihrer Hand angestellt?«
»Jemand hat mir die Finger ausgerenkt. Sie hätten sie sehen sollen... wie sie seitwärts abstanden. Mir wurde ganz schlecht«, sagte ich.
Wir schlenderten ein Stück weiter. Zu unserer Rechten trennte ein niedriges Mäuerchen den Gehweg vom Sand auf der anderen Seite. Bis zur Brandung lagen ungefähr zweihundert Meter Strand dazwischen. Bei den momentanen Wetterbedingungen sah das alles trostlos aus. »Wie kommen wir bis jetzt voran?« fragte ich.
»In welcher Hinsicht?«
»Ich nehme an, daß Sie mich abtaxieren und versuchen, sich darüber klarzuwerden, wieviel Sie mir erzählen wollen.«
»Ja, das stimmt«, räumte sie ein. »Tom hat mir vertraut, und das nehme ich ernst. Ich meine, auch wenn er tot ist — warum soll ich sein Vertrauen mißbrauchen?«
»Das ist Ihre Entscheidung. Vielleicht geht es um einen ungelösten Fall, und Sie hätten die Gelegenheit, ihn an seiner Stelle abzuschließen.«
»Hier geht es nicht um Tom, sondern um seine Frau.«
»So könnten Sie es sehen.«
»Warum soll ich ihr helfen?«
»Einfaches Mitgefühl. Sie hat ein Recht auf ihren Seelenfrieden.«
»Haben wir das nicht alle?« sagte sie. »Ich bin der Frau nie begegnet und fände sie wahrscheinlich nicht einmal sympathisch, wenn ich sie kennenlernen würde, also kümmert mich ihr Seelenfrieden einen Dreck.«
»Und Ihr eigener?«
»Das ist meine Sache.«
Mehr bekam ich nicht aus ihr heraus. Als wir am Kai ankämen, wurde der Regen wieder stärker. »Ich glaube, ich verabschiede mich hier«, sagte ich. »Ich wohne einen Block in diese Richtung. Falls Sie sich entschließen sollten, mir mehr zu sagen, melden Sie sich einfach.«
»Ich werd’s mir überlegen.«
»Ich könnte Hilfe gebrauchen.«
Unter einem immer heftiger werdenden Nieselregen, der mir die Haare kräuselte, trottete ich nach Hause. Was zierten sich die Leute denn immer so? Nichts als ein Haufen schweigsamer Verklemmter. Es war wohl an der Zeit, mit den Spielchen aufzuhören. Ich hielt mich nur so lange in meiner Wohnung auf, wie ich brauchte, um mir die Haare zu frottieren, Handtasche und Schirm zu
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