Kopf Unter Wasser
auf und löschte das Licht. Als er das Notebook abschalten wollte, erwachte es aus dem Stand-by-Modus, und auf dem Bildschirm erschien abermals das Foto mit Peters gelbem, totem Gesicht. Er merkte, wie ihm der Mageninhalt in den Hals schoss. Reflexhaft schluckte er und kippte ein Glas Raki hinterher. Dann schaltete er das Gerät aus und zündete sich eine Zigarette an: Die Nacht konnte beginnen.
Ungefähr ein Jahr nach Henrys Vortragswoche in Korea zog Birte nach Berlin. Sie kündigte es per E-Mail an, und Henry, der es leid war, Bettina treu zu bleiben (was er, abgesehen von der einen Mittagspause im Hotel, geschafft hatte, ohne sich anstrengen zu müssen), schrieb zurück, dass sie sich unbedingt bei ihm melden solle. Er werde ihr gern die Stadt zeigen, als Dank, dass sie ihn durch Seoul begleitet habe. Falls sie seine Handynummer noch nicht habe, hier sei sie.
Diesmal schrieb er die korrekte Ziffernfolge auf, und Anfang August rief Birte tatsächlich an und fragte, ob er sie nicht in ihrer neuen Wohnung besuchen wolle. Sie sei erst gestern eingezogen, sagte Birte und nannte die Adresse. Ihre Wohnung lag zehn FuÃminuten von seiner entfernt.
»Das ist gleich um die Ecke«, sagte Henry.
»Was wir für ein Glück haben«, sagte Birte.
»So gegen acht?«
»Du kannst kommen, wann du willst. Ich bin die ganze Zeit da. Ich muss Kisten ausräumen.«
»Na, dann bring ich eine Flasche Wein mit und helfe dir.«
»Soll ich was kochen?«
»Was Koreanisches?«
»Ich dachte eher an Nudeln oder so was. Was Einfaches.«
»Wir können auch Pizza bestellen«, sagte Henry.
»Ich freu mich.«
»Bis gleich.« Henry klappte sein Handy zu.
Sie hatten seit Seoul nicht mehr miteinander gesprochen, lediglich E-Mails gewechselt, die jedoch zunehmend den Charakter offizieller Bulletins angenommen hatten. Und plötzlich dieses zwanglose Verabredungstelefonat, diese banale Vertrautheit, als würden sie sich jede Woche treffen, als wären sie gute Freunde. Auf diese Art unterhielt sich Henry normalerweise nur mit Bettina, manchmal noch mit seinen Eltern und mit Freunden, die er schon sehr lange kannte. Es war ein Sprechen ohne Vorsicht, ohne die Deckung der Ironie, ohne die Angst, etwas Falsches zu sagen oder etwas falsch zu formulieren. Es war das Gegenteil eines Vorstellungsgespräches, eines Verhörs, und diese Art zu sprechen war im Alltag so selten geworden, dass man sie sofort bemerkte, wenn sie einem unterlief.
Die Semesterferien hatten begonnen, und Bettina weilte gerade in Brno, um eine Installation aufzubauen, die im Rahmen einer deutsch-tschechischen Gruppenausstellung gezeigt werden sollte. Direkt von dort wollte sie auf eine griechische Insel fliegen und drei Wochen in einem Ferienhaus Urlaub machen. Eigentlich hätte Henry sie begleiten sollen, der Ferienaufenthalt sei ein Geschenk für ihn, besser gesagt, für sie beide, für ihre Beziehung, hatte Bettina gesagt.
Da Henry aber nur wenig Lust verspürte, zwanzig Tage am Stück mit Bettina zu verbringen, gefangen in einem Haus, das auf einer Insel stand, schob er die Arbeit an seinem Buch vor, die endlich aufzunehmen auch tatsächlich geboten war. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass ein gemeinsamer Urlaub auch harmonisch verlaufen könnte. Er hatte vergessen, dass sie die zehn Tage in London blendend miteinander ausgekommen waren.
Bettina sagte, sie verstehe sehr gut, dass die Arbeit Vorrang habe, und lud statt seiner eine Freundin in das Ferienhaus ein.
Die Wohnung befand sich in einem frisch renovierten Altbau, verfügte über zwei groÃe Zimmer mit Stuck an der Decke und einen Balkon, der auf eine SeitenstraÃe ging. Sie lag in der teuersten Gegend des Stadtbezirks, in der subalterne Parlamentsmitarbeiter wohnten, die Hiwis der Abgeordneten, die Stellvertreter der Stellvertreter von Staatssekretären, Serienschauspieler, Leute, die in der Werbung waren oder irgendwas mit Medien machten, die Besitzer von Steuerberatungskanzleien und C3-Professoren der Sozialwissenschaften.
Einen Block weiter lag die Dachterrassenwohnung von Henrys ehemaligem Chef. Wo andere Häuser einen kleinen Spielplatz im Hof hatten oder einen Garten, besaà dieses einen Parkplatz, auf dem Porsche, S-Klasse-Benze oder Audi-Cabriolets standen. Dieses Viertel war, bei aller Gleichmut, die sich Henry mittlerweile antrainiert hatte, nur schwer zu ertragen. Es mochte an seiner
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