Kopfloser Sommer - Roman
nicht, ob ich versuchen soll, die Sicherung wieder hineinzudrehen, oder ob ich besser warte, bis Mutter wieder herunterkommt. Ich beschließe, ein paar Kerzen anzuzünden, nicht weil es besonders dunkel ist, sondern weil ich es ein bisschen gemütlicher haben will.
Ich finde, es dauert lange. Was machen sie da oben? Ich gehe zur Treppe, horche. Die Dusche ist angestellt, sonst ist esruhig. Ich versuche Jacob dazu zu bewegen, hinaufzugehen und nachzusehen, aber er will das Spielbrett nicht verlassen. Er hat Angst, dass ich die Chance nütze und schummele.
»Wieso gehst du nicht selbst?«
Ich ziehe die Schuhe aus und bin gerade auf der dritten Stufe, als oben eine Tür geöffnet wird. Hastig drehe ich mich um, laufe zurück zum Tisch, ziehe die Schuhe an und tue so, als sei nichts gewesen. Mutter kommt mit Anders’ nassen Sachen die Treppe herunter, dreht die Sicherung ein und wirft die Klamotten in den Trockner.
»Er bleibt bis morgen«, erklärt sie, als sie ins Wohnzimmer tritt. »Er will gern beenden, was er angefangen hat.«
»Komm jetzt spielen«, sagt Jacob.
Mutter setzt sich an ihren Platz am Wohnzimmertisch, wir können endlich weiterspielen. Ich sage nichts, denke mir aber meinen Teil. Als Anders kurz darauf zu uns stößt, hat er Mutters Bademantel an. Es sieht komisch aus, weil er an den Schultern zu schmal und gleichzeitig zu lang ist. Er trägt keinen Verband mehr, und die Beule an der Stirn ist deutlich zu sehen. Sie schimmert bläulich und sieht wirklich aus wie ein kleines Horn. Er setzt sich ans Tischende und sieht uns beim Spielen zu. Ich strenge mich an und gewinne tatsächlich. Er beglückwünscht mich. Jacob wird Letzter und verlangt sofort Revanche. Aber jetzt muss Anders auch mitspielen, und er ist sofort dazu bereit. Er liebt Mensch-ärgere-dich-nicht, er hat es oft mit seinen Eltern gespielt. Genau hier am Fenster, mit Blick auf den Garten. Er erinnert sich daran, wie es einmal donnerte, so wie jetzt auch, ein ganz eigenartiges Gefühl für ihn. Natürlich auch ein wehmütiges Gefühl, dass müsse er zugeben. Wir anderen sind ganz still, als wir die Figuren aufstellen. Er darf anfangen. Ich finde, er sollte nicht so viel von seiner Kindheit reden. Ätzend, dass er immer kurz davor ist,in Tränen auszubrechen.
Als er den Würfelbecher das erste Mal schüttelt, erleuchtet ein Blitz das Wohnzimmer. Jacob zuckt zusammen und krabbelt auf Mutters Schoß. Das Haus hat einen Blitzableiter, beruhigt sie uns. Anders würfelt eine Sechs, und kurz darauf noch eine, aus irgendeinem Grund bin ich nicht überrascht. Als er den Becher das dritte Mal schüttelt und über den Kopf hebt, wird sein Gesicht von einem Blitz erleuchtet, der noch heftiger ist als der vorhergehende. Die Stirn und die Wangenbeine leuchten weiß auf, die Augenhöhlen bleiben dunkel – als hätte man einen Totenkopf vor sich. Die Würfel rollen, wieder eine Sechs. Dann kommt der Donnerschlag. Die Regalbretter in der Vitrine klirren, Jacob schreit laut auf. Der Blitz muss ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Ich laufe ans Fenster und schaue hinaus. Im ersten Moment ist nichts zu sehen, und ich bin schon regelrecht enttäuscht, doch als ich auf die Terrasse trete, traue ich meinen Augen kaum. Hoch oben am Giebel brennt eine Buche!
Die anderen rufen mich herein, es ist gefährlich, im Freien zu stehen. Aber als ich sage, es brennt, kommen sie ebenfalls heraus, um sich den Schaden anzusehen. Der obere Teil des Baumstammes ist gespalten, und ein brennender Ast befindet sich ganz in der Nähe des Hausgiebels. Der Regen hat nachgelassen, das Feuer breitet sich schnell aus. Mutter ist geradezu panisch, sie dreht sich im Kreis und will die Feuerwehr rufen. Aber Anders ist der Ansicht, dass wir auf die Feuerwehr nicht warten können. Stattdessen holt er eine Säge aus dem Geräteschuppen und steigt in den Baum. Wie ein Seeräuber am Schiffsmast klettert er den Stamm hinauf und hält die Säge dabei wie einen Degen zwischen den Zähnen. Mutter ruft, er soll es lassen, aber ich glaube nicht, dass sie es ernst meint, denn es muss jetzt sofort etwas unternommen werden. AlsAnders so weit oben ist, dass er den brennenden Ast absägen kann, ist sie ganz still und drückt Jacob an sich. Sie hält ihm eine Hand vor die Augen und schaut selbst auch weg, aus Angst, dass etwas passieren könnte. Anders könnte sich zu Tode stürzen. Egal, ich will es sehen.
Bevor er den Ast ganz absägt, zieht er ihn zu sich heran, damit er nicht aufs Haus fällt,
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