Kopfloser Sommer - Roman
dich tut. Du bist jung, und du verdienst es, jung zu sein.«
Ich höre ihm mit angehaltenem Atem zu und nicke. Er soll weiterreden.
»Allerdings wollen die Erwachsenen es nicht zulassen, und das macht dich wütend. Du musst diese Wut herauslassen, sonst kehrt sie sich gegen dich und etwas in dir zerbricht. Es hat bereits angefangen.«
Alles klingt vollkommen richtig. Und ich will mich nicht zerbrechen lassen, ich will ich selbst sein, ich will mich nicht anpassen. Im Augenblick habe ich Sommerferien und sitze mit einem Burschen zusammen, den ich zufällig anziehend findeund dem ich offenbar auch gefalle. Niemand soll sich da einmischen, schon gar nicht Mutter. Sie ist träge und Jacob im Grunde ein ganz normaler Junge. Ich muss mich bloß entspannen und mehr genießen, das habe ich verdient. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass es vielleicht doch noch ein guter Sommer wird.
Ich lehne mich an Anders und entspanne mich. Wende ihm mein Gesicht zu, schließe die Augen. Wenn er mag, darf er mir gern einen Kuss geben. Aber ich spüre nur seine Hände. Sie sind überall an meinem Körper, ich bekomme eine Gänsehaut. Plötzlich greift er in meine Haare und zieht daran, erst vorsichtig, dann langsam fester, bis ich ihn bitte aufzuhören. Ein bisschen wie in der Höhle, nur kommt es mir längst nicht so gefährlich vor, denn hier bin ich zu Hause. Ich spüre seinen Atem. Seine Lippen berühren meine, ganz sanft, einen Kuss kann man es eigentlich nicht nennen. Amalies älterer Bruder küsst ganz anders, er steckt mir die Zunge in den Mund und lässt sie kreisen. Anders saugt vorsichtig an meiner Oberlippe, dann an meiner Unterlippe, es ist sehr erregend. Ich schlinge die Arme um seinen Hals und ziehe ihn an mich, und dann küssen wir uns richtig; ich wusste nicht, dass es sich auch so anfühlen kann. In diesem Moment sind Mutters Schritte auf der Treppe zu hören, wir fahren auseinander. Anders läuft durch die Terrassentür hinaus, und ich bleibe auf dem Sofa sitzen und richte mir die Haare.
»Hallo, Mutter. Geht’s besser?«
»Ja, danke, Emilie. Und was ist mit dir? Machst du es dir gemütlich?«
7
Mutter steht an der Wohnzimmertür, ihr Blick schweift zwischen mir und dem Garten hin und her, wo Anders unschlüssig herumläuft und nach der Heckenschere sucht.
»Ob ich’s mir gemütlich mache? Wie meinst du das?«, frage ich zurück und bin natürlich ängstlich, weil ich nicht weiß, wie viel sie gesehen hat.
»Das weißt du ganz genau.«
Ich ziehe ein Gesicht, als würde ich überhaupt nichts begreifen, spüre aber die Hitze auf meinen Wangen.
»Ach, das weißt du nicht?« Jacob taucht hinter ihr auf. Und nun weiß ich, worum es geht ‒ dieser kleine Wurm hat gepetzt. Ich könnte ihn erwürgen.
»Also, weißt du, auch wir anderen müssen hier leben. Ist doch grässlich, wenn man gar nichts mehr sagen darf.«
»Ich habe richtig Angst bekommen! Ich habe noch immer Angst. Hier, sieh doch!« Er streckt seine beiden Hände aus, die tatsächlich zittern, aber vielleicht tut er nur so.
»Ach, beruhig dich«, sage ich. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Du schaffst es nur immer wieder, dass sich alles um dich dreht.«
Er sieht Mutter an, als hätte ich ihn bei etwas ertappt, und sie schaut mich an ‒ mit stechenden Augen und gesenktem Kopf. So hat sie mich noch nie reden hören. Ich ziehe auf dem Sofa die Beine an und nehme mir fest vor, dass ich mich für nichts entschuldigen werde.
»Was Anders vom Kopfabnehmen erzählt hat, das geht überhaupt nicht«, sagt Jacob noch.
»Das habe ich dir doch auch gesagt, oder?«
»Es war Anders, er hat in mein Fenster geguckt. Nachdem er aus deinem Bild gekommen ist, Emilie.«
Er klammert sich an Mutter, ein jämmerliches Bild, und sie hält tröstend die Arme um ihn.
»Ich habe die Collage versteckt. Jacob kann sie nicht gesehen haben. Aber Anders hat sie gesehen, und er meint, ich hätte Talent. Es sei ein guter Weg, um meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, sagt er.«
»Deinen Gefühlen?«, wiederholt Mutter und lächelt auf diese angestrengte Art, wie immer, wenn sie sich angegriffen fühlt. »Ach, sagt er das? Und was sind das für Gefühle, Emilie?«
»Wut, zum Beispiel«, erwidere ich leise. »Davon steckt viel in mir, das kann er auf meinen Bildern sehen. Ich soll keine Angst haben, meine Wut herauszulassen.«
Ich finde es unglaublich, dass ich so etwas sage. Und ich wage es auch nur, weil ich das Gefühl habe, nicht länger allein zu sein. Ich
Weitere Kostenlose Bücher