Kopfloser Sommer - Roman
Bauch. Er lacht und küsst mich in den Nacken.
Ich flüstere, das war zu fest, und er entschuldigt sich. Dann lehne ich mich zurück und lege den Kopf an seine Brust. Er umarmt mich. Sein Gesicht ist dicht vor meinem, ich spüre seinen Atem. Und als sei das nicht genug, schlingt er auch seine Beine um mich und hält mich wie in einem Schraubstock. Mein Kleid ist hochgerutscht, ich spüre den groben Stoff seiner Hose an meiner Haut. Er pustet mir ins Ohr. Es kribbelt und krabbelt und ich versuche, mich zu befreien, denn das Ganze kommt einer Folter gleich. Aber ich kann nicht, er ist zu stark. Wieder möchte ich am liebsten schreien, doch Anders hält mir den Mund zu. Ich bekomme keine Luft mehr, ersticke fast.
»Ich kann ein Haus zwischen den Bäumen sehen.«, hören wir von draußen.
»Ein Haus?«, antwortet Anders und läßt mich los; ichschnappe nach Luft. Was soll das? Das war nicht komisch, ich will hier raus.
»Wo denn, Jacob?«, rufe ich.
»Seht es euch an. Es sieht unheimlich aus.«
Ich will zu meinem kleinen Bruder, aber Anders hält mich zurück und flüstert mir eine Entschuldigung ins Ohr. Ich drehe den Kopf und blicke in seine braunen, samtweichen Augen. Er entschuldigt sich wieder und wieder und es sieht tatsächlich so aus, als meine er es ernst.
»Kommt jetzt!«, ruft Jacob. »Was glaubt ihr, wer da wohnt?«
Ich weiß nicht, von welchem Haus er redet, und schaue Anders fragend an. Er zuckt die Achseln und reißt ein Loch ins Laub, damit wir hinausschauen können. Jacob hängt mit dem Kopf nach unten in einem Baum, die Beine um einen Ast geschlungen, und schaukelt hin und her. Mit den Händen formt er ein Fernrohr vor seinen Augen. Es sieht gefährlich aus, ich muss zu ihm, bevor der Ast abbricht.
Ich krieche aus der Höhle und stelle mich neben ihn unter den Baum, bereit, ihn aufzufangen. Als ich in die Richtung sehe, in die er zeigt, sehe ich tatsächlich ein Haus, verstehe ihn aber nicht.
»Das Haus da kennst du doch, Jacob.«
»Wirklich?«
»Ja, es ist das Haus, in dem wir wohnen. Was ist los, du Spinner, das weißt du doch genau?«
Er hebt die Arme, fasst nach dem Ast, an dem er hängt, und lässt sich neben mir auf die Erde fallen. Dann schaut er noch einmal hin, nun mit dem Kopf oben.
»Komisch, eben sah es noch ziemlich unheimlich aus. Glaubst du, das Haus ist verhext?«
Jetzt ist auch Anders aus der Höhle gekommen. »Vielleichtwohnen dort ja die Wilden?«
»Ich würde jetzt gern nach Hause gehen«, erkläre ich. Meine Laune hat sich um hundertachtzig Grad gedreht, weil ich nicht begreife, was in der Höhle passiert ist. Und ich mache mir Sorgen wegen Jacob. Fängt er jetzt auch noch an, Albträume zu bekommen, wenn er wach ist? Und durch Anders, der ihn auffordert, hoch in die Bäume zu klettern, wird es nicht besser. Was ist, wenn er hinunterfällt?
Ich nehme Jacob bei der Hand, Anders folgt uns. Jacob beschwert sich, weil ich zu schnell gehe, außerdem will er noch zum Brunnen. Anders schlägt vor, dass wir uns den Brunnen ein andermal ansehen, aber Jacob hört nicht auf zu quengeln.
»Also gut, ein schneller Blick«, willigt Anders ein.
Der Brunnen oder das, was noch von ihm übrig ist, liegt ungefähr fünfzig Meter von unserem Haus entfernt. Mir scheint es unlogisch, dass man so weit zum Wasser gehen musste. Aber Anders erinnert mich daran, dass der Garten ursprünglich zwei Grundstücke umfasste und der Brunnen eigentlich zu dem anderen Haus gehörte. Als wir an der Brandstätte vorbeikommen, bleiben Jacob und ich stehen. Lediglich eine halbe, völlig überwucherte Mauer steht noch. In den Ritzen des Mauerwerks wachsen Butterblumen, und mir geht Anders’ Geschichte vom Parkplatz, der zum Dschungel wurde, durch den Kopf. Vielleicht hat dieser Ort ihn zu seiner Geschichte angeregt.
Anders ist weitergegangen und ruft uns ungeduldig zum Brunnen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Jacob den Brunnen so interessant findet. Es ist lediglich ein mit Brettern abgedeckter Kreis aus Backsteinen. Über dem Loch ist ein kleines Ziegeldach errichtet, darunter hängen ein Tau und eine Rolle an einem Balken.
Anders zieht die Bretter zur Seite, und wieder bemerke ich, wie rasch und präzise seine Bewegungen sind. Man könnte meinen, er hätte es schon viele Male getan.
»Was ist da unten«, fragt Jacob und steckt den Kopf in die Öffnung.
»Nichts«, antwortet Anders, »das habe ich doch gesagt. Der Brunnen ist seit vielen Jahren ausgetrocknet. Ich weiß nicht einmal, wann er
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