Kopfloser Sommer - Roman
habe Anders an meiner Seite.
»Deine Wut? Worüber bist du denn so wütend?«
Soll ich es ihr erzählen? Dass ich wütend auf sie bin, weil sie träge und egozentrisch ist und mir viel zu viel aufbürdet? Und dass es absolut ungerecht ist, wenn Jacob so viel Raum einnimmt, denn so krank ist er auch wieder nicht. Jacob würde natürlich nicht begreifen, was ich meine. Vermutlich würde er glauben, dass ich ihn nicht mehr mag.
»Das weiß ich noch nicht genau, aber Anders will mir helfen, es herauszufinden.«
»Na, das ist aber nett von ihm, Emilie. Vielleicht sollte ich zu ihm gehen und ihm erzählen, dass du nicht die Einzige bist, die hier Gefühle hat und wütend werden kann.« Mutter dreht auf dem Absatz um und verschwindet durch die Terrassentür. Mit langen, entschlossenen Schritten.
Jacob und ich folgen ihr mit den Augen. Jacob tritt dicht an die Fensterscheibe und zuckt zusammen, als Mutter einem seiner Spielzeuge, das auf dem Rasen liegt, einen Tritt versetzt. Jetzt ist sie bei Anders und redet mit ihm. Sie beschimpft ihn, ich sehe es an den kleinen ruckartigen Bewegungen ihres Oberkörpers. Und er verteidigt sich nicht, ich bin überrascht. Wieso erzählt er ihr nicht, dass seine Mutter Schulpsychologin war und er auch Psychologie studiert hat? Und dass Jacob seiner Ansicht nach ein ganz normaler Junge ist, der nur ein bisschen mehr Aufmerksamkeit will. Plötzlich lässt Anders die Heckenschere fallen und kommt aufs Haus zu. Mutter läuft hinter ihm her.
»Geht er jetzt nach Hause, Emilie?«, fragt mich Jacob.
»Was glaubst du denn? Das hast du nun von deinem Petzen, du verzogenes kleines Arschloch.«
Jacob fängt an zu heulen, als Anders hereinkommt und die Treppe zum Badezimmer hochrennt. Wahrscheinlich will er nur seine Zahnbürste holen. Gleich wird er herunterkommen, und ehe ich mich versehe fort sein. Ich werde ihn nie mehr wiedersehen. Das darf nicht passieren, nur weiß ich nicht, wie ich es verhindern soll. Wieso musste ich Mutter auch so provozieren, warum konnte ich nicht einfach den Mund halten?
»Es war sehr schön, Anders zu Besuch gehabt zu haben«, sagt Mutter, als sie ins Wohnzimmer kommt, »aber nun ist seine Arbeit im Garten beendet und er muss wieder nach Hause.«
»Muss er denn wirklich gehen?«, versuche ich es. »Jacob hat ihm doch auch verziehen, oder?«
Jacob nickt. Doch Mutters Entschluss steht fest. Sie geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank, nimmt Käse und Marmelade heraus. Es ist nach eins, und sie hat noch nicht gefrühstückt.
»Du bist nicht mehr böse auf mich, oder?« Jacob schaut mich mit bettelnden Augen an.
»Was glaubst du denn?«
Kurz darauf ruft uns Mutter zum Essen, aber weder Jacob noch ich sind hungrig. Uns beschäftigt, wann Anders wieder herunterkommt, und was wir tun können, damit er bleiben darf. Aber die Zeit vergeht und er taucht nicht auf. Unruhig rutsche ich auf dem Sofa herum. So lange kann es doch nicht dauern, eine Zahnbürste zu holen.
»Pst«, sagt Mutter plötzlich. Wir halten die Luft an und horchen. Wir hören die Dusche. »Will er jetzt etwa auch noch duschen? Nein, irgendwann ist Schluss!«
Wütend legt Mutter ihr Besteck beiseite und springt fast die Treppe hinauf.
»Er wird sich ja wohl noch waschen dürfen!«, rufe ich ihr nach.
Jacob läuft Mutter hinterher, nur ich bleibe im Flur stehen. Mutter klopft an die Badezimmertür, es wird geöffnet. Doch unmittelbar darauf wird die Tür wieder geschlossen ‒ und ich höre nichts mehr.
Jacob kommt atemlos zurück. »Anders hat einen Arm rausgestreckt, Mutter ins Badezimmer gezogen und die Tür wieder zugemacht.«
»Und jetzt? Streiten sie sich?«
»Ja. Und dann wurde der Schlüssel herumgedreht.«
»Es wurde abgeschlossen?«
Er nickt. Mir gefällt diese Entwicklung gar nicht, aber ich atme tief durch und zähle bis zehn. Jetzt geht es darum, keine übereilten Schlüsse zu ziehen. Sie unterhalten sich sicher nur. Aber warum haben sie die Tür abgeschlossen?
»Glaubst du, er tut ihr was?«, will Jacob wissen. »Wird er sie schlagen oder umbringen? Wird er uns auch etwas antun?«
»Ganz bestimmt«, antworte ich und denke, etwas anderes ist vermutlich wahrscheinlicher, aber nicht sehr viel besser. Die Zeit vergeht, und sie kommen nicht wieder heraus. Ein Gefühl der Kälte steigt in mir auf, ich beginne zu frieren.
»Wenn er Mutter etwas tut, schlagen wir ihn noch einmal mit dem Baseballschläger, ja?« Ich nicke. »Soll ich ihn holen, Emilie?«
»Nein, geh erst mal
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