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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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das letzte Mal benutzt wurde.«
    Jacob zieht die Taschenlampe aus der hinteren Hosentasche und leuchtet hinunter. Deshalb hat er sie mitgenommen, er wollte die ganze Zeit zum Brunnen. Erschrocken tritt er einen Schritt zurück, und ich schreie auf, denn in diesem Moment kriecht eine Ratte über den Rand. Ich hasse Spinnen, aber das ist nichts im Vergleich zu Ratten. Sie hinkt und sieht krank aus, Anders schlägt mit einem Brett nach ihr. Ich glaube, er trifft, aber sie schleppt sich trotzdem weiter ins hohe Gras. Anders läuft ihr nach und schlägt wieder auf sie ein; ob er sie schließlich erledigt hat, weiß ich nicht, denn ich schaue weg.
    »Ich denke, das war’s jetzt mit der Führung«, sagt er, als er zurückkommt. Ohne eine Antwort abzuwarten, deckt er die Brunnenöffnung wieder ab.
    »Ich glaube, ich weiß, was das hier ist«, sagt Jacob mit einem sehr nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Das ist gar kein Brunnen. Das ist die Spitze des Turms einer alten Burg.«
    Anders und ich sehen uns mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wären wir seine Eltern.
    »Und wo ist die Burg?«
    »Da unten, unter der Erde. Die Leute, die hier vor vielen Jahren gelebt haben, haben sie eingegraben, damit sie heimlich weiterleben können. Das Mittelalter ist verschwunden, aber sie wollten nicht verschwinden, weil es ihnen gut ging.«
    »Dann ist das also kein Brunnen, sondern ein Luftkanal?«, frage ich nach, und er nickt. Ich gehe auf seine Fantasien ein. »Tja, darauf hätten wir auch längst kommen können, oder was meinst du, Anders?«
    »Ja, Jacob hat etwas entdeckt, sehr gut. Ich glaube auch, dass dort unten noch immer jemand wohnt, und manchmal kommen sie nachts heraus, gehen in den Straßen umher und schauen den Leuten zum Fenster hinein.«
    »Da hörst du’s, Emilie!« In Jacobs Augen zeigt sich ein wilder Ausdruck. »Da hat einer in mein Fenster geguckt, das habe ich nicht geträumt.« Jacob hält inne, sammelt all seinen Mut und flüstert: »Warst du das, Anders?«
    Ich erwarte, dass er nein sagt, aber er lächelt nur geheimnisvoll. Begreift er denn nicht, dass mein Bruder diese Art von Humor nicht versteht?
    »Ich dachte, es war jemand aus meiner Collage?«, versuche ich das Gespräch in Gang zu halten.
    »Vielleicht doch nicht«, räumt Jacob ein. »Der auf dem Bild hat ja keinen Kopf mehr, Anders schon. Es sei denn, er kann ihn abnehmen.«
    Anders lächelt noch immer geheimnisvoll. Ich stoße ihm einen Ellenbogen in die Seite, aber er lacht nur auf diese eigenartige, unheimliche Art, ein bisschen so wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel während des Gewitters.
    »Natürlich kann ich meinen Kopf abnehmen«, sagt er schließlich. »Das mache ich jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe. Ich schraube ihn ab und lege ihn unters Bett.«
    »Das kann man nicht. Dann stirbt man!«
    »Ach ja?«
    »Los, zeig’s mir. Komm schon!«
    Anders lehnt jedoch ab, weil Kinder so etwas nicht sehen sollten.
    »Das stimmt gar nicht. Das kann man überhaupt nicht.«
    Ich gebe Jacob recht und gehe zum Haus zurück, das alberne Spiel muss ein Ende haben. Aber Anders und Jacob bleiben stehen, und zu meinem Entsetzen hört Anders nicht auf.
    »Das machen alle Erwachsenen, bevor sie zu Bett gehen«, behauptet er. »Die Kinder wissen es nur nicht, aber sie lernen es, wenn sie größer werden. Man schläft ja auch nicht in Gummistiefeln, oder? Das ist Ferkelei. Und am nächsten Morgen setzt man sich den Kopf natürlich wieder auf, denn man braucht ihn ja zur Arbeit oder wenn man einkaufen gehen will.«
    Jacob steht mit offenem Mund da, sein Brustkorb hebt und senkt sich, ein bisschen wie bei einem Vogel. Ich begreife nicht, was Anders beabsichtigt. Will er meinen kleinen Bruder zu Tode erschrecken? Jacob schaut mich mit großen, verängstigten Augen an. Ich sage, das ist ja wohl der größte Quatsch, den ich je gehört habe, aber wie es scheint, ist Jacob nicht so leicht zu beruhigen. Er dreht sich um und rennt aufs Haus zu. Ich laufe ihm nach, hole ihn auf der Terrasse ein und umarme ihn mit beiden Armen. Er tritt und schlägt um sich und ruft nach Mutter.
    »Mutter schläft. Du darfst sie nicht wecken.«
    Es ist ihm egal, er ruft wieder, ich halte ihm den Mund zu. Was würde sie wohl sagen, wenn sie ihn in diesem Zustand sieht? Anders ist hinterhergekommen, und offenbar hat er endlich den Ernst der Situation erfasst. Er redet mit beruhigender Stimme auf Jacob ein.
    »Ich kann mir den Kopf nicht abnehmen, Jacob, und das weißt du auch. Es war nur

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