Kopfloser Sommer - Roman
hoch und guck durchs Schlüsselloch, damit wir wissen, was los ist.«
»Das habe ich schon versucht, aber ich konnte nichts sehen, weil der Schlüssel steckt.«
»Dann horch an der Tür.«
»Wieso machst du’s nicht selbst?«
Ich denke tatsächlich darüber nach, bringe es aber nicht fertig. Stattdessen gehe ich in mein Zimmer und lenke mich mit der Arbeit an meiner Collage ab. Wenn ich nervös bin, hilft das oft. Anders geht es mit der Gartenarbeit vermutlich ebenso. Ich blättere in den Zeitschriften und Modemagazinen und finde eine Schwalbe im Gleitflug unter einem wolkenlosen Himmel. Ich schneide sie aus und klebe sie ganz oben ins Bild. Es sieht aus, als würde die Schwalbe zufällig vorbeifliegen, einen flüchtigen Blick auf das Elend werfen und wäre klug genug, rasch weiterzuziehen. Mir geht es besser, als ich mir das so vorstelle. Jacob hingegen geht es überhaupt nicht gut, er tritt im Wohnzimmer von einem Fuß auf den anderen und läuft die Treppe hinauf und wieder hinunter. Er ruft nach Mutter, und er ruft nach Vater. Er ruft auch nach mir, ja, er versucht sogar, in mein Zimmer zu kommen, aber ich scheuche ihn hinaus. Das muss Mutter jetzt selbst regeln, es fällt nichtmehr in meine Verantwortung. Ich bin jung, und ich habe das Recht, jung zu sein. Ausnahmsweise erlaube ich mir, an mich selbst zu denken, und arbeite weiter.
So vergeht eine ganze Stunde, vielleicht auch nur eine halbe. Dann höre ich Mutters Stimme. Ich laufe ins Wohnzimmer. Sie sieht nicht aus wie die Mutter, die vor einer halben Stunde die Treppe hinaufgestürmt ist. Ihr Gesicht hat Farbe bekommen, und sie lächelt Jacob und mich und überhaupt alles um sich herum verklärt, ja, geradezu verliebt an ‒ es ist wirklich ekelhaft. Ich bemerke, dass ihr Haar nass ist.
»Hat er dir etwas getan, Mama?«, erkundigt sich Jacob.
»Nein, was sollte mir Anders denn tun?«
»Wieso habt ihr abgeschlossen?«
Sie lacht ein perlendes Lachen, wie ich es lange nicht mehr von ihr gehört habe. Ich ertappe mich, dass ich es wirklich vermisst habe. Aber im Moment beunruhigt es mich eher.
»Anders war unter der Dusche, und ich habe mir im Waschbecken die Haare gewaschen«, behauptet sie und sieht mich von der Seite an. Ich sehe, dass sie lügt, und sie weiß auch, dass ich es sehen kann. Doch es scheint sie nicht zu stören, sie ist vergnügt und lacht. Kurz darauf kommt auch Anders aus dem Bad, und irgendwie bringt sie auch ihn zum Lachen. Mir ist zum Heulen zumute.
Er hat sich umgezogen und sieht nicht aus wie jemand, der das Haus verlassen soll. Im Gegenteil. Ich versuche, Augenkontakt zu ihm aufzunehmen, aber er wendet den Blick ab; im Grunde kann ich es gut verstehen. Mutter bietet ihm etwas zu essen an, er bedankt sich und geht in die Küche. Sie unterhalten sich leise und vertraulich, offenbar sind sie wieder gute Freunde, so schnell kann das gehen. Ich bleibe im Wohnzimmer und weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Anders darf noch eine Weile bei uns bleiben. Ich hatte es gehofft, under wollte es wohl auch selbst gern. Aber als Mutters Liebhaber, damit hatte ich nicht gerechnet.
Irgendwann schaut Anders aus der Küche zu mir ins Wohnzimmer. Er lächelt unsicher und will sich scheinbar vergewissern, dass wir noch immer Freunde sind. Nein, ganz sicher nicht; ich hoffe, er sieht es meinem Blick an. Ich warte nur auf eine Gelegenheit, ihm ins Gesicht zu spucken. Noch vor einer Stunde hat er mich auf dem Sofa geküsst ‒ und kurz darauf vögelt er meine Mutter im Badezimmer. Wie kann er so etwas vor sich selbst rechtfertigen? Also ist doch ein Monster durch unseren Garten geschlichen und hat in Jacobs Fenster geguckt.
»Willst du nichts essen, Emilie?«, fragt er.
»Nein danke, mir ist der Appetit vergangen.«
Jacob hingegen nicht. Er setzt sich zu ihnen, und es dauert nicht lange, bis er mit Anders plaudert, als sei nichts geschehen. Wie gewöhnlich begreift er überhaupt nichts, ich könnte ihm den Hals umdrehen.
Meine Gedanken kreisen ununterbrochen um die beiden im Badezimmer. Ich weiß ziemlich genau, was sie dort getrieben haben, doch es muss trotzdem etwas mehr als nur das Übliche gewesen sein. Nach der Scheidung hatte Mutter zwei Mal Männerbesuch, einer hat auch übernachtet. Aber es gibt einen Unterschied ‒ danach war sie nicht so fröhlich gewesen.
Nach dem Mittagessen gehen Anders und Jacob in den Garten. Anders arbeitet mit der elektrischen Heckenschere. Jacob möchte es auch versuchen. Und, um Himmelswillen, Anders
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