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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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geöffnet. Ist er doch zu Hause? Ich flüstere Anders’ Namen, ziehe dasFenster auf, stecke den Kopf hinein und schaue mich um. Im Zimmer ist niemand. Er muss tatsächlich aus dem Fenster geklettert sein.
    Ich gehe im Garten umher und suche nach ihm; ich habe das Gefühl, dass er hier irgendwo sein muss. Und dann höre ich etwas hinter der großen Weide. Es sind dieselben Geräusche wie damals, als ich Anders am ersten Abend weinen hörte. Langsam gehe ich auf das Geräusch zu, Adrenalin pumpt durch meinen Körper, ich bin bereit, jeden Moment davonzurennen. Doch hinter der Weide ist niemand. Auch nicht in den Büschen rund um den Baum. Eigenartig. Kurz darauf höre ich wieder etwas, nun klingt es jedoch wie eine Frau, aber auch ein Mann scheint dabei zu sein. Allerdings handelt es sich nicht um Anders. Wer ist es dann? Sie scheinen um Hilfe zu rufen, hier ganz in der Nähe und doch weit entfernt.
    Verängstigt laufe ich zurück zum Haus. Schließe die Türen ‒ sowohl die Haustür als auch die Hintertür und die Tür zur Terrasse. Auch das Fenster des Gästezimmers will ich von innen verriegeln, aber ich komme nicht hinein, die Tür ist abgeschlossen. Was soll ich machen? Noch einmal gehe ich nach draußen, klettere ins Gästezimmer und schließe das Fenster von innen. Der Zimmerschlüssel steckt von innen im Schloss, ich gelange auf den Flur und kann die Haustür wieder absperren. Es gibt keine weiteren offenen Fenster, niemand kommt jetzt noch ins Haus.
    Ich sehe nach Jacob, er schläft noch immer tief und fest. Es wundert mich, dass er bei dem Lärm, den Mutter veranstaltet hat, nicht aufgewacht ist. Die Augen sind geschlossen, ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen, den Teddy hält er im Arm. Er ist im Land der Träume versunken. Eigentlich ein gutes Zeichen, ich müsste mich freuen. Doch seltsamerweise beunruhigt es mich. Am liebsten würde ich ihn wecken undihm erzählen, was ich erlebt habe, ihm würde das Lächeln schon vergehen. Aber das bringe ich nicht fertig. Trotzdem, sein Verhalten ist seltsam. Hat er nichts zu befürchten, weckt er das ganze Haus mit seinen Angstschreien, wenn es aber viele gute Gründe für Albträume gibt, schläft er tief.
    Erschöpft hocke ich mich vor sein Bett und lege den Kopf neben seinen. Meine Stirn berührt seine Stirn, und ich hoffe, der Albtraum um uns herum verschwindet, wenn ich nur lange genug sitzen bleibe.
    Am nächsten Vormittag sitzt Mutter bereits am Tisch, als ich zum Frühstück in die Küche komme. Oder, um genauer zu sein: Sie hängt über dem Tisch. Ich setze mich ihr gegenüber und esse einen Teller Cornflakes; niemand sagt ein Wort. Kurz darauf kommt Anders, als wäre nichts passiert, und setzt sich neben Mutter. Sie reagiert nicht. Er schmiert sich eine Scheibe Weißbrot mit Käse und Johannisbeergelee.
    »Anders«, sage ich schließlich, »wo zum Henker bist du gewesen?«
    Er sieht mich verständnislos an. »Ich? Wann?«
    Ich schaue Mutter an, die laut gähnt und in ihrer Kaffeetasse rührt. Ich begreife es nicht.
    »Mama, was ist hier los? Hast du ihm von gestern Nacht erzählt?«
    »Ja. Er war hier, als ich aufgestanden bin. Wir haben darüber geredet.«
    »Und?«
    »Er ist gestern Abend nur ein bisschen spazieren gegangen, Emilie, das macht er oft. Allerdings ist er gestern etwas länger unterwegs gewesen als sonst.«
    »Ist das alles?« Ich wende mich an Anders. »Verdammt, wir konnten dich nicht finden, Mutter war außer sich und dachte, dir sei etwas passiert. Etwas Ernstes.«
    »Ach? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.« Sie hustet und fasst sich an den Kopf. »Und bitte, hör auf zu fluchen.«
    Sie kann sich nicht erinnern? Okay, sie war besoffen, aber irgendetwas muss sie doch noch wissen. Ich glaube ihr nicht und ich begreife nicht, wie sie so ruhig dasitzen kann. Doch offenbar dauert es auch bei mir eine Weile, bis ich richtig wach bin, denn jetzt fällt mir etwas Wichtiges ein.
    »Wie bist du eigentlich hereingekommen, Anders?«
    »Wie meinst du das?«
    »Gestern Nacht, nachdem du spazieren gegangen bist.«
    »Durch die Eingangstür, denke ich«, antwortet er, allerdings scheint er unsicher zu sein.
    »Nein, die war abgeschlossen. Die Hintertür ebenfalls, und die Fenster waren von innen verriegelt, dafür habe ich gesorgt. Hast du ihn hereingelassen, Mutter?«
    Mutter schüttelt den Kopf, allmählich scheint sie diese Frage auch zu interessieren. Es ist mir ein Rätsel, wie er in ein Haus kommen konnte, das vollkommen zugesperrt

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