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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ich?«, quengelt Jacob.
    »Weil er im Garten hart gearbeitet hat«, erwidert Mutter.
    »Das habe ich doch auch, oder, Anders?« Anders nickt und Mutter gibt Jacob noch ein Stück Fleisch. Anders nimmt sich das letzte Stück von der Platte, es sieht fast so aus, als äße er mit Jacob um die Wette. Ich wende den Blick ab und halte mich ans Gemüse.
    Nach dem Abendessen kümmere ich mich mit Mutter um den Abwasch. Ich lasse die Bemerkung fallen, dass Anders noch nicht einmal in der Küche geholfen hat. Zumindest könnten wir ihn doch bitten abzutrocknen. Aber oh nein, wir dürfen ihn jetzt nicht stören, denn er sieht sich gerade mit Jacob das Kinderprogramm an. Es ist wichtig für Jacob, Zeit mit einem erwachsenen Mann zu verbringen, der nicht sein Vater ist. Ich schaue ins Wohnzimmer und erwarte, dass sie vor dem Fernseher sitzen. Aber im Wohnzimmer ist niemand. Sie sind im Vorgarten und beugen sich über irgendetwas am Boden. Als ich näher komme, sehe ich, dass es sich um eine Schwalbe handelt. Sie schlägt mit den Flügeln und blutet aus dem Schnabel.
    »Sie ist gegen die Scheibe geflogen«, berichtet Jacob. »So richtig fest, und jetzt kann sie nicht mehr fliegen. Sie hat sich den Flügel gebrochen.«
    »Ich glaube, das ist noch nicht alles«, meint Anders. »Sie hat sich auch das Genick gebrochen, außerdem hat sie innere Blutungen.«
    »Woher weißt du das? Können wir sie nicht zum Tierarzt bringen?«
    »Man bringt keine Schwalbe zum Tierarzt«, sage ich.
    »Aber wir könnten sie doch mit reinnehmen und füttern. Ich kann mich um sie kümmern, bis sie wieder gesund ist.«
    »Nein«, sagt Anders. »Sie ist nicht mehr lebensfähig. Sie leidet, und man lässt Tiere nicht leiden.« Er hebt den Vogel auf und dreht uns den Rücken zu. Eine schnelle Handbewegung, dann geht er zum Mülleimer. Jacob läuft ihm nach.
    »Was hast du getan?«
    »Jetzt leidet die Schwalbe nicht mehr«, sagt Anders vollkommen emotionslos und wirft den Vogel in den Mülleimer. Dann geht er ins Wohnzimmer, um eine Sportsendung zu sehen.
    Jacob hebt den Deckel der Mülltonne und schaut ängstlich hinein. Ein erstickter Schrei.
    »Emilie, er hat ihr den Kopf abgerissen!«
    »Komm, lass uns reingehen.« Ich versuche, ganz ruhig zu bleiben. Aber in Wahrheit bin auch ich ziemlich schockiert.
    »Sie blutet aus dem Hals. Los, komm, sieh es dir an!« Ich denke nicht dran! Stattdessen nehme ich Jacob bei der Hand und ziehe ihn ins Wohnzimmer. Wir setzen uns aufs Sofa.
    »Wollen wir die Schwalbe nicht begraben?« Ich antworte nicht.
    Anders konzentriert sich auf ein Tennismatch. Jacob setzt sich ausnahmsweise nicht neben ihn, sondern bleibt neben mir sitzen. Er drängt sich geradezu an mich und wirft Anders wütende Blicke zu. Geduldig erkläre ich ihm, dass der Vogel nicht weiterleben konnte, es war richtig, ihn zu töten. Hätten wir ihn liegengelassen, wäre er von einer Katze gefressen worden. Und hätten wir ihn mit ins Haus genommen, wäre er trotzdem gestorben, aber erst nach einigen Stunden des Leidens.
    »Deshalb muss man ihm doch nicht den Kopf abreißen«, wendet Jacob ein.
    Ich schaue hinüber zu Anders, denn eigentlich bin ich auch Jacobs Ansicht. Doch Anders reagiert nicht, er verfolgt das Tennisspiel.
    »Das geht am schnellsten, dann ist man sicher«, höre ich mich sagen; ich weiß nicht, wie ich darauf komme.
    »Sicher?«
    »Ja, dass der Vogel tot ist. Sonst kann man’s doch gleich lassen, oder? Aber wenn Kopf und Körper getrennt sind, leidet er nicht mehr. Dann hat er Frieden gefunden.«
    Ich sehe Jacob an, dass er zu verstehen beginnt.
    Mutter bringt Anders ein Glas Weißwein. Er wirft nur einen Blick auf das Glas, ohne es ihr aus der Hand zu nehmen, und sie trägt es wieder hinaus und bringt ihm ein Glas Rotwein. Er trinkt einen Schluck, sie lächelt erleichtert. Als Mutter außer Sichtweite ist, greift er hinter Jacobs Rücken nach meiner Hand. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, meine Gedanken kreisen noch immer um den Vogel. Was hätte Vater getan? Wahrscheinlich hätte er den Vogel ebenfalls getötet. Aber nicht auf diese Weise, ganz bestimmt hätte er ihm nicht den Kopf abgerissen, sondern einen Stein benutzt. Und hinterher hätte er sich unwohl gefühlt. Anders scheint so etwas schon viele Male getan zu haben. Aber kann das sein? Ich habe gelesen, dass man an gewissen Orten in Südeuropa Spatzen in einem Netz fängt und als Delikatesse verspeist, aber gilt das auch für Schwalben? Und werden ihnen dabei die Köpfe

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