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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Mutter stochert im Essen, Jacob spielt mit seinem. Er spürt, dass Mutter nicht mehr nüchtern ist, und macht alles, was er sonst nicht darf. Ihr ist es egal. Aber mir nicht. Als er seine Milch in die Topfpflanze gießen will, unterbinde ich es rechtzeitig und gebe ihm eins auf die Finger. Und hinterher muss er mir helfen, den Tisch abzuräumen. Allerdings ist der Abwasch meine Angelegenheit, denn Mutter ist dazu nicht mehr in der Lage. Sie liegt auf dem Sofa, ihr Drink steht in Reichweite. Jacob sitzt neben ihr und sieht fern. Als sie anfängt zu kleckern, nehme ich ihr das Glas weg. Sie schaut mich vorwurfsvoll an und schläft ein. Kurz darauf schläft Jacob auch. Ein schönes Paar. Mutter schnarcht, und Jacob hat einen Arm um ihren Hals gelegt.
    Vorsichtig wecke ich Jacob und bringe ihn in sein Zimmer, ausnahmsweise überspringen wir das Zähneputzen. Ich helfe ihm, sich auszuziehen, und lege ihn ins Bett, er schläft sofort weiter. Aus irgendeinem Grund scheint er sich geborgen zu fühlen. Ich finde es erstaunlich, denn eigentlich gibt es keinen Grund.
    Mutter lasse ich auf dem Sofa schlafen. Ich weiß nicht, wie ich sie die Treppe hochschaffen soll, um sie ins Bett zu bringen. Mir graut davor. Die Treppe ist ziemlich steil, und tragen kann ich sie nicht. Sie kann auf dem Sofa liegen bleiben.
    Ich gehe in mein Zimmer und arbeite an meiner Collage. Gegen elf Uhr klopft es an meiner Tür. Natürlich ist sie es.
    »Ich habe Angst, dass er sich was angetan hat«, flüstert sie beim Hereinkommen.
    »Anders? Was sollte er sich denn antun?«
    »Du verstehst gar nichts, Emilie. Du weißt nich’, wie es ihm geht.«
    »Aber du, wie? Mama, du bist besoffen. Geh ins Bett.«
    In nüchternem Zustand wäre es undenkbar, dass ich so mit ihr rede. Aber wenn sie betrunken ist, kann ich sagen, was ich denke. Eigentlich ist das ganz schön, denn am nächsten Tag hat sie alles vergessen.
    »Er hat versucht, sich zu erschießen.« Sie macht eine dramatische Kunstpause und setzt sich auf mein Bett. Ich sage nichts. Es klingt verrückt, aber vielleicht steht es doch schlimmer um ihn, als ich dachte.
    »Woher weißt du das?«
    »Er hat die Narbe einer Schussverletzung an der Brust, neben dem Herzen.«
    »Wieso neben? Weiß er denn nicht, wo das Herz sitzt?«
    »Vielleicht wollte er ja nich’ sterben, Emilie. Vielleicht war’s ja ein Hilferuf?«
    »Aber wieso? Was fehlt ihm denn?«
    Sie seufzt resignierend, so wie immer, wenn sie meint, ich sei nicht alt genug, um auch nur irgendetwas davon zu verstehen. Für mich klingt es jedenfalls nicht sehr überzeugend. Und im Augenblick geht es darum, Mutter ins Bett zu bringen, solange sie noch stehen kann. Ich nehme sie unter dem Arm und führe sie zur Treppe, lasse sie auf die erste Stufe treten, dann auf die nächste ‒ und freundlicherweise arbeitet sie mit. Ich rede mit ihr wie ein Erwachsener mit einem Kind, aber gefallen tut es mir nicht.
    »Ich glaube nicht, dass es ihm schlecht geht. Außerdem kümmert er sich um den Garten, das wird ihm bestimmt helfen.«
    Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt hört, aber sie macht einen Schritt nach dem anderen und hält sich dabei am Geländer fest. Endlich sind wir oben. Ich schiebe sie ins Schlafzimmer und ziehe sie bis auf die Unterwäsche aus. Schwerfällig lässt sie sich aufs Bett fallen und wünscht mit eine gute Nacht.
    Bevor ich zu Bett gehe, räume ich noch im Wohnzimmer auf und schließe zur Sicherheit den Barschrank ab. Ich schaue auch noch einmal nach Jacob, der tief und fest schläft. Mir wird es sicherlich nicht so leicht fallen.
    Schließlich nehme ich meinen Mut zusammen und gehe zur Tür des Gästezimmers. Vorsichtig klopfe ich an.
    »Ich bin’s, Emilie«, flüstere ich. »Mutter und Jacob liegen im Bett.«
    Ich könnte mir vorstellen, dass Anders lieber mit mir redet als mit Mutter. Aber aus dem Zimmer dringt kein Laut. Er ist nicht da.
    Ich gehe noch einen Moment auf die Terrasse, um Nachtluft zu schnuppern. Und plötzlich habe ich das Gefühl, als bewege sich etwas zwischen den Bäumen. Es geht so schnell, vielleicht ist es nur der Wind, aber es könnte auch er gewesen sein. Läuft er wirklich nachts zwischen den Büschen umher? Nackt? Habe ich nun das Vergnügen, es zu erleben? Vielleicht kommt er und holt mich, wenn ich mich in meinen roten Gummistiefeln auf den Rasen stelle und lange genug warte. Vielleicht nimmt er mich bei der Hand und zieht mich tief in den Wald ‒ und dort essen wir euphorisierende Pilze und lieben

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