Kopfloser Sommer - Roman
»Vielleicht passiert es ja gerade in diesem Moment. Aber wie gesagt, er muss zu uns kommen, nicht umgekehrt. Es nützt nichts, ihn unter Druck zu setzen, Emilie.«
Ich schüttele den Kopf, habe verstanden. Mutter setzt sich wieder an den Schreibtisch, atmet tief durch und schreibt ein paar Zeilen. Aber es fällt ihr schwer, und kurz darauf muss sie erneut zum Kühlschrank. Ich beobachte sie vom Sofa aus. Sie stellt sich ans Fenster, schaut in den Garten und nippt an ihrem Glas. Anders sitzt noch immer im Gras. Jetzt steht er auf und wirft den Zeichenblock auf den Terrassentisch, wo er ihn gefunden hat. Es war ziemlich unvorsichtig von mir, ihn dort liegen zu lassen. Vielleicht habe ich insgeheim gehofft, dass er mir etwas Nettes über die Zeichnungen sagen würde. Aber ersieht sehr ernst aus, ich bekomme regelrecht Angst.
Mutter öffnet die Terrassentür und geht ihm entgegen. Ich weiß nicht, was sie sich vorstellt, vielleicht, dass er ihr schluchzend um den Hals fällt und alles anvertraut. Stattdessen beachtet er sie kaum und kommt direkt auf mich zu; ich bereite mich auf eine Moralpredigt vor.
»Entschuldige, wenn ich dich verletzt haben sollte«, sage ich und kauere mich ins Sofa.
»Mich verletzt? Was meinst du? Die Zeichnungen sind doch fantastisch. Das Komischste, was ich seit Langem gesehen habe.«
»Aber du lachst nicht«, entgegne ich, denn er macht noch immer ein sehr ernstes Gesicht.
»Ich lache innerlich. Du kannst sehr böse sein, das habe ich nicht anders erwartet.« Er dreht sich um und verschwindet im Gästezimmer.
Ein seltsames Benehmen, und wieso ist er so feierlich? Andererseits bin ich natürlich begeistert, dass meine Zeichnungen ihm gefallen, das ist das Wichtigste. Ich darf mich gern über ihn lustig machen, Hauptsache, es ist gut. Und außerdem kann ich böse sein! Am liebsten würde ich auf dem Sofa herumhüpfen und die Arme hochreißen, aber ich nehme mich zusammen, denn Mutter kommt zurück ins Wohnzimmer. Sie schlurft regelrecht und sieht völlig deprimiert aus. Ein trauriger Fall. Sie würde ihm so gern helfen, doch er will ihre Hilfe nicht. Eben hat sie noch verliebt gestrahlt, jetzt sieht sie nur noch angetrunken aus. So schnell kann es gehen. Ich werde besser auf mich achtgeben und mich niemals irgendjemandem hingeben, bevor ich nicht ganz sicher bin, dass meine Gefühle erwidert werden. Im Moment deutet allerdings sehr viel darauf hin. Obwohl ich erst vierzehn bin, nimmt Anders mich ernst, als Künstlerin wie als Frau. Das habe ich noch nie erlebt.
Mutter geht zum Barschrank, mixt sich einen Drink und setzt sich an den Schreibtisch. Ist kein Weißwein mehr im Kühlschrank? Vielleicht ist die Flasche leer, oder sie braucht jetzt einfach etwas Stärkeres. In der Schule habe ich gelernt, dass Frauen nur vierzehn Gläser in der Woche trinken dürfen. Mutter hält es für Unfug, denn Männer dürfen einundzwanzig Gläser trinken ‒ und einen so großen Unterschied gibt es ihrer Meinung nach nicht zwischen Männern und Frauen. Diese Regel haben Männer gemacht, sagt sie. Außerdem gilt sie nicht in den Ferien. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht besäuft, wenn Anders dabei ist und es peinlich wird. Wenn sie weiterhin so zügig trinkt, werde ich wohl den Barschrank abschließen und den Schlüssel verstecken müssen.
8
Den Rest des Nachmittags passiert nicht mehr viel, außer dass Mutter sich mehr und mehr betrinkt. Mir fällt es schwer, es mit anzusehen, und das weiß sie genau; allerdings tue ich so, als würde ich es nicht bemerken. Mit dem Glas in der Hand legt sie sich zu mir aufs Sofa, die Füße in meinen Schoß.
»Hör auf, mich so anzusehen«, sagt sie. »Ich habe Urlaub.«
Ich gehe in die Küche und fange an zu kochen. Sie kommt nicht, um mir zu helfen, und ich bitte sie auch nicht darum.
Als das Abendessen auf dem Tisch steht, gelingt es ihr, auf die Beine zu kommen. Sie schlurft auf den Flur, klopft an Anders’ Tür und ruft ihn zum Essen. Keine Antwort. Ist er bereits zu Bett gegangen? Jacob bietet an, ums Haus zu laufen und bei Anders ins Fenster zu schauen. Noch bevor Mutter etwas sagen kann, ist er losgerannt.
»Ich konnte nichts sehen«, erklärt er, als er zurückkommt. »Die Gardinen sind vorgezogen, und Licht brennt auch nicht. Vielleicht versteckt er sich irgendwo im Garten?«
»Er ruht sich sicher nur aus. Lasst uns essen«, sage ich.
»Ja, er kommt, wenn er kommt«, stimmt Mutter zu. »Er braucht Ruhe und Frieden.«
Wir reden nicht mehr darüber.
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