Kopfloser Sommer - Roman
Emilie. In gewisser Weise stimmt es ja auch, weil ich behauptet habe, ich hätte mich mit ihnen versöhnt. Aber ich habe das nur gesagt, um dir nicht den Mut zu nehmen. Elternerziehung ist nicht so leicht, wie du glaubst. Wie du siehst, ist es harte Arbeit und braucht seine Zeit. Es gibt Eltern, die ein wenig begriffsstutzig sind, wie zum Beispiel diese beiden hier. Es braucht Zeit und Geduld, sie zu erziehen; ich mache das nicht, weil ich es besonders amüsant finde. Aber verstehst du, wenn ich sie zu früh freilasse, gehen sie sofort zur Polizei, und weißt du, was dann passiert? Dann wird nichts aus uns beiden. Und das wäre doch traurig?«
»Ganz bestimmt«, sage ich, weil ich ganz einfach Angst habe, dass er mich auch hier unten ankettet. »Aber lass uns jetzt hinaufgehen.«
Er zögert einige Sekunden, bevor er antwortet, und ich vermute, dass in diesen Sekunden über mein Schicksal entschieden wurde. Er versucht, sich darüber klar zu werden, ob er mir vertrauen kann oder nicht. Ich lächele ihn freundlich an, und glücklicherweise greift er nach meiner Hand. Wir gehen zusammen in den Gang. Aber plötzlich dreht Anders sich um, offenbar hat er etwas vergessen. Das Radio. Anders nimmt es aus dem Regal und stellt es in Reichweite der Eltern auf den Küchentisch. Jetzt können sie das Programm, das sie hören wollen, selbst einstellen. Sie bedanken sich unterwürfig, und ich sehe ihm an, dass er sich wohl dabei fühlt. Wieder versichert er mir, wie gut er sich um seine Eltern kümmert. Er besucht sie jeden Tag und sorgt dafür, dass sie zu essen und zu trinken bekommen. Allerdings haben sie inzwischen nicht mehr so viel Hunger. Hin und wieder muss er sie regelrechtfüttern.
»Was bekommen sie denn zu essen?«, erkundige ich mich und denke an den Katzenkopf in dem Dreckhaufen.
»Da improvisiere ich ein bisschen. Aber Kartoffeln haben wir genug. Und am Ende bekommen sie immer etwas Kaffee, das gehört dazu. Ab und zu spiele ich auch Mensch-ärgere-dich-nicht mit ihnen, schließlich sollen sie es hier unten nett haben. Wenn sie sich gut benommen haben, nehme ich sie mit ins Gedenkzimmer, dann schauen wir uns die alten Fotos an. Das mögen sie gern, es ist eine hübsche Abwechslung. Wir haben ja auch viele schöne gemeinsame Erinnerungen. Ich habe nicht vor, sie hier bis in alle Ewigkeit sitzen und verrotten zu lassen, ich bin schließlich kein Psychopath. Natürlich kommen sie wieder frei. Aber erst, wenn die Zeit reif dafür ist.«
Ich nicke, tue so, als würde das in meinen Ohren vernünftig klingen, gleichzeitig zermartere ich mir das Hirn, wie ich uns alle lebend aus dieser Situation herausbringe. Hätte ich bloß mein Handy mitgenommen.
Anders zeigt mir einen anderen Ausgang: durch eine geheime Klappe in den Vorratskeller unter unserer Küche. Dort lässt sich eine Sperrholzwand zur Seite schieben. Jetzt verstehe ich, wie er ins Haus gelangen konnte, obwohl sämtliche Türen verschlossen und die Fenster verriegelt waren.
Als wir uns in der Küche den Staub abbürsten, sehen wir uns an. Ich bin gespannt, was er jetzt vorhat, und rechne mit dem Schlimmsten.
»Kommt heute Abend irgendetwas Nettes im Fernsehen?«
Dies ist ungefähr die letzte Frage, die ich erwartet hätte. Aber er sieht aus, als würde er es ernst meinen.
»Bestimmt. Aber ich glaube, wir sollten das auf einen anderen Abend verschieben. Jacob ist im Wohnzimmer, und erwird Angst bekommen, wenn er dich sieht. Mutter kommt erst Sonntag wieder nach Hause, wir haben also jede Menge Zeit.«
Vielleicht ist es naiv zu glauben, dass er sich damit zufriedengibt, aber versuchen muss ich es.
»Jacob und ich sind doch gute Freunde«, erwidert er. »Und ich muss einfach mal wieder einen ruhigen und gemütlichen Fernsehabend mit euch verbringen. Du bist ein bisschen durcheinander wegen meinen Eltern und den Ketten, oder? Herrjeh, Emilie, was musst du nur von mir denken? Du brauchst jetzt Ruhe, und ich auch. Komm, lass uns reingehen. Vielleicht gibt’s irgendeine Serie oder eine Unterhaltungsshow, so etwas wäre jetzt gut.«
Anders summt vor sich hin, als er zum Wohnzimmer geht. »Hier komme ich, es gibt nur mich.«
Wieder überlege ich einen kurzen Moment, ob ich fortlaufen soll, jetzt hätte ich die Chance. Aber ich habe Angst, dass er Jacob etwas antut, wenn ich nicht da bin. Ich folge ihm, obwohl meine Knie zittern und ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen.
Jacob hebt kaum den Blick vom Bildschirm, als wir hereinkommen. Er fragt auch
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