Kopfloser Sommer - Roman
unrecht getan wurde. Ich gebe ihm einfach recht.
»Nein, nein«, jammert er und schlägt auf den Fernseher, er ist vollkommen außer sich. »Solche Eltern dürften überhaupt keine Kinder bekommen!« Plötzlich reißt er sich jedoch zusammen, schaltet um und tut so, als hätte er alles bereits vergessen.
Ich habe Angst, zumal es schon ziemlich spät ist; ich möchte keinesfalls die Nacht mit ihm verbringen. Wenn ich unter irgendeinem Vorwand in mein Zimmer käme, könnte ich mit meinem Handy, das auf dem Nachttisch liegt, die 112 anrufen. Aber Anders achtet auf jede meiner Bewegungen.
»Ich muss mal aufs Klo«, sage ich so beiläufig wie möglich und stehe auf. Wenn ich im Flur bin, schaffe ich es vielleicht bis zur Haustür und kann zu Frau Larsen laufen. Aber Anders erhebt sich auch und geht mit.
Im Badezimmer schließe ich von innen ab und öffne das Fenster zur Straße. Es ist zu hoch, um zu springen. Wenn jemand auf dem Bürgersteig vorbeiginge, könnte ich rufen, aber natürlich ist dort niemand. Das ist das Verdammte am Landleben: Wenn die Not am größten ist, bleibt man sich selbst überlassen.
Vor der Tür räuspert sich Anders, er bewacht mich wie einGefängniswärter. Was hat er eigentlich vor? Ich bin eine Zeugin seiner Taten, die, vorsichtig ausgedrückt, ungesetzlich sind. Was wird er tun, um zu verhindern, dass ich rede? Wird er mich umbringen? Oder zusammen mit seinen Eltern in den Keller sperren?
Ganz ruhig denke ich darüber nach, was ich unternehmen kann, als im Wohnzimmer plötzlich das Telefon klingelt. Wer kann das sein? Mutter? Anders ruft Jacob zu, dass er nicht rangehen darf, dann höre ich Schritte auf der Treppe. Das Klingeln hört auf. Hat überhaupt jemand abgenommen? Ich schließe die Badezimmertür auf ‒ die Luft ist rein. Jetzt habe ich die Chance zu entkommen.
Als ich die Treppe hinuntergehe, werde ich unsicher. Ist das jetzt wirklich das Richtige? Was passiert mit Jacob, wenn ich verschwinde? Ich muss Jacob mitnehmen.
Ich schleiche zum Wohnzimmer, Anders hantiert mit dem Telefon. Er versucht, die Leitung aus dem Apparat zu reißen, offenbar sitzt sie aber zu fest. Jacob wendet mir den Rücken zu, ich kann keinen Kontakt zu ihm aufnehmen, ohne mich bemerkbar zu machen. Jetzt sucht Anders irgendetwas auf dem Schreibtisch, vielleicht eine Schere. Dann zieht er noch einmal so fest er kann an der Schnur. Dann muss er mich gehört haben, denn er dreht sich plötzlich um und kommt auf mich zu. Ich bin auf das Schlimmste gefasst, doch er legt nur eine Hand auf meine Schulter und führt mich ins Wohnzimmer zum Sofa. Jacob kuschelt sich an mich. Er ist sich jetzt über den Ernst der Situation im Klaren, und ich wünschte, ich könnte helfen. Wieder legt Anders seinen Arm um mich.
»Wer war am Apparat?«, frage ich.
»Verwählt«, antwortet Anders. »Erst dachte ich, eure Mutter, ich hätte mich gern mir ihr unterhalten.«
»Können wir sie nicht anrufen?«, schlägt Jacob vor.
»Es ist zu spät, das machen wir morgen«, erwidert Anders.
Kurz darauf klingelt in meinem Zimmer das Handy. Anders und ich stehen gleichzeitig auf, er lässt mich vorgehen. Das Telefon liegt auf dem Nachttisch und blinkt ‒ natürlich packt er mich am Arm und zieht mich zurück, noch bevor ich danach greifen kann. Ich kann nicht erkennen, wer angerufen hat, und ich sehe auch nicht, was er mit dem Anruf macht. Anders schaltet das Handy aus, dreht mich um und schubst mich zurück ins Wohnzimmer.
Wieder sitzen wir auf dem Sofa.
»Wer war das?«, erkundigt sich Jacob.
»Derselbe Idiot«, entgegnet Anders, und Jacob sagt kein Wort mehr, sondern sieht mich nur ängstlich an.
Ich nicke ihm beruhigend zu, denn er kann ohnehin nichts tun. Im Gegenteil, er würde möglicherweise alles nur noch schlimmer machen.
»Nur jemand, der sich verwählt hat«, sage ich. Ich weiß nicht, ob er mir glaubt, aber er schaut jetzt wieder auf den Bildschirm und versucht an etwas anderes zu denken.
Ich finde keine Ruhe, rutsche ständig hin und her. Außerdem ist mir heiß. Irgendwie muss ich Anders bewußtlos schlagen oder ihn fesseln, aber ich weiß nicht wie und ob ich die Kraft und den Mut dazu habe. Was passiert, wenn es beim ersten Versuch nicht klappt?
»Woran denkst du, Emilie?«, will Anders wissen. Und da ich nicht weiß, was ich antworten soll, fügt er hinzu: »Tja, es ist ja auch schon spät.«
Seine Hand streicht über meinen Nacken. Übt ein wenig Druck aus. Was sich bisher so erregend anfühlte, ist jetzt
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