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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht, wo ich so lange gewesen bin. Ebenso wenig wirkt er überrascht, als er Anders sieht.
    »Du kommst doch normalerweise erst später«, sagt er.
    »Anders kommt uns guten Tag sagen«, versuche ich zu erklären. »Es ist ja so lange her. Wir schauen ein bisschen zusammen fern und dann geht er wieder.«
    Es rutscht mir einfach so heraus, glücklicherweise reagiert Anders nicht darauf.
    »Normalerweise klettert er doch erst nachts durch dein Fenster. Kommt er heute so früh, weil Mutter nicht da ist?«
    Ich weiß nicht, was ich antworten soll ‒ und jetzt blickt Jacob auf. Er spürt, wie nervös ich bin. Und meine Unruhe überträgt sich auf ihn.
    »Was ist passiert? Er wird uns doch nichts tun, oder?«
    »Mal ehrlich«, sagt Anders, »könnte ich euch etwas tun? Was stellst du dir denn vor? Dass du überhaupt auf eine solche Idee kommst. Es ist ziemlich verletzend, was du mir da unterstellst.«
    »Natürlich wird er uns nichts tun«, werfe ich ein. »Er will nur einen gemütlichen Abend mit uns verbringen.«
    »Weiß Mutter, dass er hier ist?«
    »Nein, und das muss sie auch nicht wissen. Es reicht, wenn ich es weiß. Wollen wir fernsehen?«
    Mit der Fernbedienung zappt Anders ein bisschen in den Programmen herum, sucht nach etwas Unterhaltsamem. Aber es gibt weder eine Familienserie noch eine Fernsehshow. Ich hätte es ihm sagen können, schließlich ist heute Freitag. Dafür wird aber ein Naturfilm über Kletterbären in Peru gezeigt. Tiere sind immer nett, meint er, und bei den tollen Bildern vom Regenwald können wir uns alle sehr gut entspannen. Ich bezweifle das, lächele aber und atme tief durch. Er legt mir seinen Arm um den Hals. Ich muss Jacob und mich irgendwie hier herausbringen, aber ich habe keine Ahnung, wie.
    »Nun sieh dir diese kleinen Bärenjungen an, sind sie nicht süß?«
    Ich nicke, aber aus guten Gründen fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Jacob spürt, dass ich mich überhaupt nicht wohl fühle, und kuschelt sich an mich.
    »Jetzt schaut schon hin!«, sagt Anders. »Wir wollen es uns doch gemütlich machen!«
    Wir versuchen es. Wir sehen einer Bärenfamilie zu, die ausVater, Mutter und zwei Jungen besteht. Als die Jungen nicht mehr ganz klein, aber auch noch nicht wirklich erwachsen sind, klettern die Alten in den höchsten Baum, den sie im Wald finden. Die Jungen stehen am Fuße des Baums und schauen hinauf.
    »Was sollen sie denn machen?«, will Jacob wissen.
    »Klettern lernen, denke ich«, antworte ich ihm.
    So sieht es tatsächlich aus. Die Jungen beginnen zu klettern, und nach einigen Anstrengungen erreichen sie die Eltern. Anders klatscht begeistert in die Hände. Doch dann passiert etwas Seltsames. Die Alten rutschen den Baum herunter und rennen, so schnell sie können, davon. Die Jungtiere bleiben zurück und verstehen überhaupt nichts.
    »Wieso laufen die Eltern denn weg? Wo wollen sie hin?«, fragt Jacob ängstlich. Aber weder Anders noch ich kennen die Antwort. In einer Nahaufnahme sehen wir die Jungen im Baum, die sich mit großen traurigen Augen umsehen. Es wird Nacht, es wird Morgen, und sie sitzen noch immer dort. Dann klettern sie vorsichtig vom Baum, suchen ein paar Tage nach ihren Eltern und begreifen schließlich, dass sie von nun an allein zurechtkommen müssen. Sie hungern und frieren, eines stirbt im Laufe des Winters, das andere ist mit seinen Kräften so gut wie am Ende.
    »Das ist doch furchtbar«, meint Jacob. »Wo sind denn die Eltern?«
    »Eltern sind nicht mehr das, was sie mal waren«, antwortet Anders. Ich spüre, dass auch er beunruhigt ist ‒ fast mehr als Jacob.
    Jacob möchte gern umschalten, aber Anders will den Film über die Bären zu Ende sehen, obwohl es keineswegs so aussieht, als würde er sich dabei amüsieren. Er wird immer blasser, vor allem, als sich herausstellt, dass die Alttiere sich am entgegengesetzten Ende des Waldes angesiedelt haben undeinen neuen Wurf großziehen. Als die Kleinen groß genug sind, werden sie ebenfalls auf einen hohen Baum gelockt, die Eltern rutschen herab, und so weiter. Wie gehabt.
    »Das können die doch nicht machen«, stöhnt Anders, er weint. »Die können doch nicht einfach so abhauen, bevor die Jungen erwachsen sind, verflucht, was ist denn das für eine Art? Mann, sind die feige!« Sein Gesicht klebt beinahe am Bildschirm. »So was nennt man konfliktscheu, oder? Was sagst du dazu, Emilie?«
    Er dreht sich um und sieht mich an, er gleicht einem Kind, dem

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