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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Versteck hinter den Kartoffelsäcken. Als Anders mich bemerkt, hält er sofort inne.
    »Emilie, wie zum Teufel …?« Der Gürtel hängt in seiner Hand, die Augen sind kugelrund. »Was machst du hier?«
    »Anders, hör sofort auf damit!«
    »Emilie, es ist nicht so, wie du glaubst. Sie waren böse zu mir, du kannst dir nicht vorstellen, wie sie mich gequält haben.«
    »Würdest du sie bitte freilassen?«
    »Seit ich ein Kind war, haben sie mich psychisch terrorisiert. Aus irgendeinem Grund glaubten sie, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist, aber sie konnten sich nicht auf eine Diagnose einigen. Von morgens bis abends haben sie darüber diskutiert und hatten alle möglichen Theorien. Und zu jeder Theorie gehörte eine Erziehungsmethode. Ständig musste etwas Neues ausprobiert werden. Ich bin nicht ihr Sohn gewesen, Emilie, ich war ihr Versuchskaninchen.«
    Ich höre einfach zu, lasse ihn reden, hoffe, dass er bald zurVernunft kommt. Am liebsten würde ich weglaufen, aber ich habe Angst, dass er mich einholt und auch mich mit dem Gürtel verprügelt. Ich habe nichts, um mich zu verteidigen, nur die Taschenlampe meines Bruders. Apropos Jacob, er wird sich Sorgen machen, wo ich bleibe. Ich vermute, er sucht bereits nach mir.
    »Nichts half, aber sie waren weiterhin der Meinung, dass mit mir irgendetwas nicht in Ordnung sei. Ich hatte eine Freundin, etwas älter als du, Emilie, wir mochten uns sehr. Wir waren ein Paar.«
    Er macht eine kleine Pause, scheinbar fällt es ihm schwer weiterzureden, er ist offensichtlich gerührt. Mir ist seine Freundin ziemlich egal, aber ich wage nicht, ihn zu unterbrechen.
    »Ich habe bemerkt, dass sie immer mit meinen Eltern geredet hat, bevor sie nach Hause ging, und eines Tages folgte ich ihr heimlich zur Tür. Ich bekam einen Schock, denn ich hörte, dass sie meinen Eltern alles erzählte, was wir zusammen gemacht haben. Sie haben sie regelrecht verhört und machten sich Notizen, was ich gesagt oder getan habe, bis in die kleinsten Details. Als sie nichts mehr aus ihr herausbekamen, gaben sie ihr Geld, und sie ging nach Hause. Ich war ein interessanter Fall, und sie wollten ein Buch über mich schreiben. Es sollte Das verlorene Paradies heißen.«
    Ich drehe mich zu den Eltern um, denn ich kann nicht glauben, dass er die Wahrheit erzählt. Beide haben die Köpfe gesenkt und sehen aus, als schämten sie sich.
    »Stimmt das?«
    Sie antworten nicht, seufzen nur; er scheint die Wahrheit zu sagen.
    »Einen Roman?«, frage ich nach.
    »Nein, ein Fachbuch«, erwidert Anders. »Sie wollten Geldmit mir verdienen und in der Welt der Psychologie Ruhm und Ehre erwerben. Als ich es herausfand, beschloss ich, etwas dagegen zu unternehmen.«
    Ich nicke, als würde ich verstehen, denke mir aber meinen Teil. Wenn er eine so furchtbare Kindheit hatte, wäre es dann nicht eine bessere Idee gewesen, von zu Hause auszuziehen?
    »Ich war kurz davor, als Wrack zu enden, Emilie, als Fall für die Psychiatrie. Ich wagte nicht, mich irgendwo zu zeigen«, erklärt er, als hätte er meine Gedanken erraten. »Hier fühlte ich mich am sichersten. Vor allem, wenn ich im Keller war. Ich kümmerte mich um den Garten, bis Frau Larsen mich rausgeschmissen hat. Dann bin ich in den Brunnen gezogen, tja, und den Rest kennst du.«
    Den Rest kenne ich, sagt er, aber so sicher bin ich nicht. Er hat nicht erzählt, was im Hobbyraum passiert, und ich wage nicht, ihn danach zu fragen. Bestimmt weiß ich viele Dinge noch nicht, die so schlimm sind, dass sie meine Vorstellungskraft übersteigen. Während seiner langen Rechtfertigung habe ich zum Beispiel entdeckt, dass in der gegenüberliegenden Ecke des Raums ein kleiner Dreckhaufen liegt, der diesen widerlichen Gestank verströmt. Mit Mühe erkenne ich einen Katzenkopf und den Kadaver eines Meerschweinchens, oder ist es eine Ratte? Und nicht wenige Vogelfedern.
    »Ich finde, du solltest sie jetzt freilassen.«
    »Es dauert nicht mehr lange. Aber nicht sofort. Im Übrigen haben sie alles, was sie brauchen. Es fehlt ihnen an nichts.« Er wendet sich seinen Eltern zu, die erschrocken zusammenzucken.
    »Nein, es fehlt uns an nichts«, wiederholen sie und schütteln dabei die Köpfe. Etwas anderes wagen sie vermutlich nicht zu sagen. Als Anders mir den Rücken zukehrt, überlege ich wieder, ob ich davonzulaufen soll, denke aber, dass es vernünftiger ist zu bleiben. Er kennt die Gänge besser und würde mich bestimmt einholen.
    »Vielleicht glaubst du, ich hätte dich belogen,

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