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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ganz einfach ekelhaft. Der Anders, der neben mir sitzt, ist nicht mehr mein Anders.
    »Schläft er hier?«, fragt Jacob.
    Ich antworte nicht. Anders pufft mich in die Seite und zwinkert mir zu.
    »So spät ist es doch gar nicht?«, sage ich.
    »Wenn wir allein sind, darf ich selbst entscheiden, wie lange ich aufbleibe«, erklärt Jacob.
    »Dann bleibst du wach und siehst fern, während Emilie und ich schlafen gehen, nicht wahr, Emilie?«
    »Ich werde dein Bett im Gästezimmer machen«, schlage ich leicht panisch vor. Aber er lacht nur und zieht an meinen Nackenhaaren. Offenbar hat er nicht vor, im Gästezimmer zu schlafen.
    »Lass uns noch zehn Minuten sitzen, es ist gerade so gemütlich«, sage ich und zappe in eine Sendung über Meeresschildkröten. Sie legen Eier. Das Weibchen legt Tausende von Eiern in den Sand ‒ eine leichte Beute für die Möwen, sobald sie ausgebrütet sind. Wenn sie fertig ist, geht sie wieder ins Wasser und schwimmt weiter. Sie kehrt nie zurück, und sollte sie später eines ihrer Jungen wiedersehen, würde sie es nicht erkennen. Das Jungtier kann sie auch nicht erkennen, aber vielleicht ist das nicht so schlimm. Anders schaut interessiert zu, streckt sich und legt sich aufs Sofa. Er legt seinen Kopf in meinen Schoß, gähnt laut und seufzt vor Wohlbehagen. Ich starre unverwandt auf den Bildschirm.
    »Nimmst du dir den Kopf ab, bevor du schlafen gehst?«, wendet sich Jacob an Anders.
    »Ja, ja«, antwortet er. »Aber du weißt ja, das zeige ich dir erst, wenn du alt genug bist. Wir haben darüber geredet.«
    »Darf Emilie es sehen?«
    »Emilie darf alles sehen. Sie und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Oder, Emilie?« Ich schüttele den Kopf. Er lächelt mich an, gähnt, schließt langsam die Augen, öffnet sie wieder. Er atmet regelmäßig. Meine einzige Hoffnung ist, dasser einschläft.
    Ob es stimmt, was er über seine Eltern erzählt hat? Im Augenblick sitzen sie unter unseren Füßen, gefesselt. Es sei denn, sie konnten sich befreien. Sie haben die Schlüssel. Unter uns ist es ganz ruhig. Aber was auch immer passiert, sie sind zu entkräftet, um uns helfen zu können. Vielleicht sind sie ja inzwischen genauso verrückt wie Anders. Ich glaube, er hat recht, sie haben tatsächlich mit ihm experimentiert. Sonst könnte er nicht so ein Ungeheuer sein.
    Wie er so daliegt, gleicht er Jacob, wenn er nach einer unruhigen Nacht endlich ein wenig Ruhe gefunden hat. Gestern hätte ich es noch genossen. Aber nach dem, was ich heute Abend erlebt habe, ist es eher erschreckend.

14
    Mucksmäuschenstill beobachtet Jacob Anders, der aussieht, als sei er eingeschlafen. Da er mit dem Kopf in meinem Schoß liegt, kann ich nicht aufstehen, ohne dass er erwacht. Wahrscheinlich hat er sich deshalb so hingelegt. Ich überlege, ob ich Jacob irgendein Zeichen geben soll, damit er Hilfe holt. Jacob sitzt dicht neben mir, aber ich wage nicht, ihm etwas zuzuflüstern. Vielleicht sollte ich auf ein Stück Papier schreiben oder ihm etwas mit den Fingern signalisieren.
    Mit einem Mal zieht Jacob die Beine an und setzt sich Anders und mir gegenüber. Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Mit einem raschen Griff packt er Anders’ Kopf und dreht ihn ruckartig zur Seite. Ein hässliches Knacken ist zu hören, es erinnert ein wenig an die Geräusche, wenn Mutter ein Hähnchen zerteilt. Anders schreckt hoch, greift sich in den Nacken und stöhnt laut auf. Er versucht sich aufzurichten, um auszuholen und Jacob zu schlagen, muss sich aber wieder hinlegen. Offenbar tut es zu weh.
    »Was habe ich gesagt«, erklärt Jacob triumphierend. »Sein Kopf lässt sich nicht abschrauben!«
    Anders schaut ihn ungläubig an, er rührt sich nicht und stöhnt. »Irgendwas mit dir ist nicht in Ordnung, das weißt du, oder?«
    »Du hast gelogen!«
    »Verflucht, das war ein Spaß, kapierst du denn gar nichts?« Anders’ Augen sind kugelrund, als er zu mir aufblickt. »Er ist lebensgefährlich, Emilie! Er gehört eingesperrt!«
    Ich gebe ihm recht, das ist im Moment das Vernünftigste.Halbherzig schimpfe ich mit Jacob und überlege gleichzeitig, wo Anders mein Handy versteckt haben könnte.
    »Sagt ihr es Mama?« Jacob wird langsam klar, was er da getan hat.
    »Nein, natürlich nicht«, tröste ich ihn, aber wahrscheinlich glaubt er mir nicht. Er bereut seine Tat und überlegt fieberhaft, wie er es wiedergutmachen kann. Noch bevor ich ihn aufhalten kann, fasst er wieder zu und dreht Anders’ Kopf in die entgegengesetzte

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