Kopfloser Sommer - Roman
keine weiteren Geräusche. War es vorhin Einbildung? Oder sind sie zu erschöpft, um noch klopfen zu können? Vielleicht sollte ich sie dort unten lassen, bis sie tot sind? Dadurch würde sicher manches einfacher. Aber im Ernst, was geht in mir vor? So etwas kann man doch nicht denken! Ich erkenne mich selbst nicht wieder!
Ich halte es in meinem Körper nicht mehr aus, es rumort in mir, obwohl ich ganz still in meinem Bett liege. Die guten Kräfte kämpfen mit den bösen, aber ich kann sie nicht unterscheiden und bin unsicher, zu welcher Seite ich halten soll. Ich kann sie auch nicht beruhigen. Ich habe das Gefühl, als würde ich hochgehoben und mit jedem Atemzug höher und höher steigen. Schließlich schwebe ich unter der Decke und schaue auf mich herab, oder besser auf meinen Körper, der weiterhin im Bett liegt. Und mir gefällt, was ich sehe. Liebevoll schützend liegen meine Arme um meinen kleinen Bruder, auf dessen Mund sich ein kleines Lächeln zeigt. Ich sehe wie eine gute und fürsorgliche große Schwester aus. Aber ich sehe auch sehr betrübt aus. Mir geht es eindeutig nicht gut,und das beunruhigt mich. Ich würde mich gern selbst aufmuntern, wenn andere es schon nicht tun.
»Emilie, du bist schon okay«, sage ich. »Du tust doch, was du kannst.«
Genau das wollte ich jetzt hören. Es ist wie ein Mantra, und ich schwebe langsam herab und lande wieder in meinem Körper. Ich bin okay, rede ich mir ununterbrochen ein, und ich tue, was ich kann. Ich bin nur ein Teenager und darf nicht zu hart zu mir sein. Wie viele andere hätten es in meiner Situation besser gemacht? Nicht viele, oder? Jetzt geht es mir wesentlich besser, mein Kopf ist vollkommen leer. Vor Dankbarkeit treten mir Tränen in die Augen, ich küsse Jacob sanft auf die Wange. Dann schalte ich die Lampe auf dem Nachttisch aus, nicht einmal die Dunkelheit ist noch gefährlich. Auch im Garten ist es ruhig, und wenn es irgendwo knistert, dann ist es der Wind. Ein heimeliges Geräusch.
Als ich am nächsten Morgen erwache, stehen mir die Ereignisse des gestrigen Tages glasklar vor Augen. Mein kleiner Bruder hat einen Menschen getötet, und ich bin mitschuldig. Ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe, ich hätte zumindest Anders’ Eltern freilassen müssen. Haben sie dort unten überhaupt etwas zu essen? Oder Wasser? Aber ich weiß auch, dass die Polizei eingeschaltet wird, wenn ich es tue, und dann ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis der Sack mit Anders gefunden wird. Ich bin einfach nicht sicher, ob ich sämtliche Konsequenzen übersehen kann. Hält Jacob es überhaupt aus, von der Polizei verhört zu werden? In jedem Fall muss ich warten, bis Vater kommt, das steht fest. Er muss das für mich übernehmen, dafür hat man doch einen Vater. Er wollte gleich nach dem Mittagessen kommen.
Ich frühstücke nicht und gehe in den Garten. Gestern gingalles so schnell, ich muss sehen, wie es am Brunnen aussieht. Es hat sich nichts verändert, und es kommen auch keine Geräusche aus der Tiefe. Ich beuge mich über den Rand und schaue hinunter. Es ist dunkel, und … riecht es nicht bereits ein wenig? Wenn die Eltern sich befreien konnten und hierher kommen, dürfen sie den Plastiksack nicht finden. Ich sehe sie vor mir, wie sie am Fuße des Brunnens stehen und aus voller Kehle ihr Los beklagen. Jacob und ich sind dann bei Vater. Obwohl es unwahrscheinlich ist, könnte doch jemand vorbeikommen und sie hören. Zur Sicherheit greife ich eine der Schaufeln, die im Gras liegen, und werfe noch ein bisschen Erde nach.
Inzwischen dürfte der Sack bedeckt sein; ich rücke die Bretter wieder an ihren Platz. Ich lege sogar einen Stein auf die Bretter, weiß allerdings nicht so genau, warum. Jacob kommt und wundert sich über den Stein.
»Anders ist doch tot, Emilie.« Er schaut mich beinahe besorgt an. Eine eigenartige Autorität schwingt in seiner Stimme mit, er spricht wie ein großer Bruder mit seiner kleinen Schwester. Ich entdecke keinerlei schlechtes Gewissen bei ihm, das ist ziemlich erschreckend.
Immer wieder erklärt er, dass wir am besten gar nichts tun. Anders ist verschwunden, und wenn wir einfach den Mund halten, wird man ihn niemals finden. Jacob glaubt tatsächlich, dass alles einfach so verschwindet, wenn wir nur vergessen, was passiert ist. Aber so ist es ja nicht, ich bringe es nicht übers Herz, ihm das klarzumachen. Selbstverständlich wird die Leiche gefunden. Wenn Anders’ Eltern nicht dort unten wären, wäre es vielleicht anders.
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