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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hinter einem Busch. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten, so zittere ich. Die Motorsäge arbeitet weiter. Durch den Lärm höre ich noch immer Anders’ Schreie, obwohl es eigentlich nicht sein kann. Ich halte mir die Ohren zu.
    Schließlich tritt im Wohnzimmer Ruhe ein. Endlich. Langsam nehme ich die Hände von den Ohren und sehe Jacob aufmich zukommen. Seine nackten Arme sind blutverschmiert, irgendwelche kleinen Klumpen kleben an seinen Sachen.
    »Ich hab’s getan«, verkündet er und schaut mich mit einem eigenartig stieren Blick an. Ich drehe mich um, gehe tiefer in den Garten, hocke mich an ein Rosenbeet und übergebe mich.
    Ständig sehe ich Jacob vor mir, der die Motorsäge an Anders’ Hals hält. Es sieht beinahe aus wie in einem Comicstrip, ein bisschen wie in den Collagen, die ich selbst klebe, nur schlimmer. Und außerdem ist es wahr. Wer hätte gedacht, dass so etwas möglich ist? Mir wird schwarz vor Augen, ich weiß nicht, wie lange ich dort liege.
    Jacob kommt und schüttelt mich, er sagt, er braucht meine Hilfe. Er hat versucht, die Leiche in einen großen schwarzen Plastiksack zu stopfen. Aber Anders ist zu schwer und zu groß, er passt nicht hinein. Ich muss ihm helfen, und zwar sofort!
    Ich richte mich auf und sehe meinen Bruder an, während ich zu verstehen versuche, was passiert ist. Seine Arme hängen schwer und mutlos an ihm herab, sein Haar steht nach allen Seiten ab. Ich muss ihm helfen, sagt er, wir müssen Anders an einem geheimen Ort im Garten verstecken. Jacob schlägt den Brunnen vor.
    »Nein, Jacob, das geht nicht.«
    »Doch, niemand entdeckt ihn dort, Emilie. Mutter und Vater wissen nicht, dass er hier ist.«
    Ich erkenne meine eigene Stimme kaum, sie muss sich von ganz weit her durchkämpfen und bebt, als ich sage: »Was du getan hast, ist das Furchtbarste, was ein Mensch tun kann.«
    »Aber Emilie, er hat wirklich gelitten, und jetzt hat er seinen Frieden gefunden.«
    Ich balle die Fäuste und presse sie vor die Augen, denn mir wird allmählich klar, was in seinem Kopf vorgeht. Begreift erdenn nicht, dass es einen Unterschied zwischen einem Vogel und einem Menschen gibt? Ich stehe auf, und als Jacob mich umarmen will, weil wir doch jetzt wieder gute Freunde sein können, stoße ich ihn zurück. Er bekommt Angst.
    »Er war selbst schuld«, versucht er es dann. »Anders war auch nicht nett zu dir.«
    Was will er damit sagen? Ich schaue ihn an, ahne beinahe, was jetzt kommt. Dieser dumme kleine Bengel, versteht er denn gar nichts?
    »Er hat Mutter lieber gemocht.«
    Ich will ihm eine Ohrfeige geben, aber er weicht rechtzeitig aus. Er ist so leicht zu durchschauen, aber bei der Leiche will ich ihm nicht helfen. Ich möchte hier weg, ein Erwachsener soll kommen, egal wer.
    Ich gehe zum Haus, und als Jacob mir folgt, drehe ich mich um und schubse ihn ins Gras.
    Meine Schritte werden langsamer, als ich mich dem Haus nähere. Ich will sehen, was er angerichtet hat, hoffe noch immer, dass alles nicht wahr ist. Auf der Terrasse bleibe ich stehen und atme tief ein, denn auf dem Holzfußboden sehe ich Blutspritzer. Und im Wohnzimmer ist es schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe. Überall Blut, auch an den Wänden, der Gestank ist widerwärtig. Der größte Teil der Leiche steckt in einem schwarzen Plastiksack, ein Stück des Oberkörpers und ein Arm ragen heraus.
    »Ich will nicht ins Gefängnis, Emilie«, sagt Jacob, als er hereinkommt. Er bleibt verängstigt stehen und sieht mich mit seinen großen blauen Augen an.
    »Du kommst nicht ins Gefängnis, dazu bist du zu klein. Aber du kommst in irgendein Heim, das ist sicher. So eins mit Ärzten und Krankenpflegern, aus dem man nicht fliehen kann.«
    »Da will ich aber nicht hin, so was ertrag ich nicht, ich bin ein hypersensibles Kind!«
    »Das ist denen egal, dort kommst du nie wieder raus.«
    »Nie wieder? Und Mama und du, ihr seid nicht da? Emilie, das will ich nicht.« Ihm stehen die Tränen in den Augen und er klammert sich an mich, aber ich zeige kein Mitleid ‒ zum Heulen ist es zu spät. »Du hast Anders hereingelassen, Emilie, obwohl Vater ihn rausgeworfen hat!«
    Da hat er allerdings recht. Ich habe mich weiterhin mit Anders getroffen, ich habe ihn hereingelassen. Ich trage einen Teil der Verantwortung, dass es so weit gekommen ist. Jetzt bin ich kurz vorm Heulen. Meine Beine tragen mich nicht mehr, ich muss mich auf der Stelle setzen. Unter mir gluckst das Blut im Teppich, mein Kleid wird nass, es ist mir egal.

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