Kopfloser Sommer - Roman
Geistesabwesend blicke ich auf Anders’ Hand, die nach mir zu greifen scheint. Unter den Nägeln ist noch immer Erde.
»Emilie, wir sagen einfach niemandem etwas, dann passiert auch nichts.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. In gewisser Weise klingt es ziemlich vernünftig. Niemand wird Anders vermissen, und wenn doch, wird niemand in unserem Brunnen suchen. Aber stimmt das überhaupt, kann er wirklich niemals gefunden werden? Ich kann nicht mehr klar denken.
»Ein Heim ist nicht gut für mich, Emilie. Ich halte das nicht aus. Dann werde ich noch nervöser, als ich es ohnehin schon bin. Und was meinst du, was ich dann anstelle?«
Ich hasse es, wenn er versucht, wie ein Erwachsener zu klingen, nur weiß ich nicht, ob er mir leidtun oder ob ich ihm böse sein soll. Er umarmt mich, und das ist entscheidend ‒ ich halte ihn fest. Ich spüre, dass er Angst hat, richtige Angst. Er zittert am ganzen Körper, allerdings geht es mir nicht anders. Doch ich bin die große Schwester, ich muss die Fassung bewahren. Er muss sich auf mich verlassen können, auch wenn er ein kleiner Schauspieler ist. Schließlich ist er nicht ganz gesund. Tatsächlich ist er sehr krank. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es ihm besser gehen wird, wenn er irgendwo hinkommt, wo er niemanden kennt. Er wird sich erst recht verunsichert fühlen. Ich darf nicht ungerecht sein, es ist nicht seine Schuld. Anders war geisteskrank, er hat Jacob diese merkwürdigen Ideen in den Kopf gesetzt. Ich darf ihn jetzt nicht im Stich lassen. Er wurde schon zu oft im Stich gelassen.
»Du musst mir helfen, Emilie«, bettelt er.
»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, sage ich und drücke ihn an mich. Um einen der Lieblingsausdrücke meiner Eltern zu verwenden, ist das sicher das Verantwortungsbewussteste, was ich tun kann.
Ich hole weitere große Müllbeutel aus der Küche, die wir gemeinsam über Anders’ Oberkörper ziehen. Zur Sicherheit klebe ich die Tüten mit Tape zusammen. Im Geräteschuppen finde ich eine Wäscheleine, mit der ich das Ganze umwickele; schließlich setzt Jacob den Daumen auf die Schnur, damit ich sie verknoten kann. Dann greifen wir uns jeder ein Ende der Wäscheleine und ziehen Anders auf die Terrasse. Er soll einfach verschwinden, ich will nicht mehr an ihn denken. Dieses kranke Schwein. Er hätte mir garantiert auch Schlaftabletten gegeben und mich in den Keller gesperrt, damit ich nichts ausplaudere. Dann hätte ich mit seinen Eltern verrotten dürfen.
Die Leiche ist schwerer, als man glauben sollte, allerdings geht es auf dem Rasen leichter. Als würde man einen Schlitten im Schnee ziehen. Während wir ihn zum Brunnen schleppen, rege ich mich über mich selbst auf, denn ich begreife einfach nicht, wieso ich Anders nicht schon vorher durchschaut habe.Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran denke, dass ich mit diesem Mann im Bett gewesen bin. Und mir ist es peinlich, wie verliebt ich war. Es war einfach nur dumm, dumm, dumm, dumm ‒ zum Kotzen. Dann sind wir endlich am Brunnen.
Ich entferne die Bretter, hieve den Sack auf den Rand und versetze ihm einen Stoß. Ein lautes Klatschen ertönt, als er auf dem Boden aufschlägt. Vielleicht ist der Plastiksack aufgerissen, irgendwann wird die Leiche anfangen zu stinken. Das lässt sich jedoch mit etwas Erde verhindern. Jacob und ich holen uns jeder eine Schaufel aus dem Geräteschuppen, und um keinen Verdacht zu erregen, graben wir die Erde unter ein paar Nadelbäumen in einem anderen Teil des Gartens aus.
Nach ein paar Schaufeln Erde erstarrt Jacob plötzlich.
»Was war das? Emilie?«
Ich schüttele den Kopf, ich habe nichts gehört. Wer könnte es sein? Anders’ Eltern? Jacob wirft die Schaufel weg und rennt davon. Ich folge ihm und nehme mir nicht einmal die Zeit, den Brunnen wieder abzudecken.
»Ich hab’s gehört, da war etwas«, stöhnt Jacob. »Du nicht?«
Ich schüttele noch einmal den Kopf. »Aber Angst hast du auch?«
»Ich habe Angst bekommen, weil du dich so erschrocken hast. Aber Anders ist tot, du hast es gesehen. Außerdem weißt du das ja sowieso besser als jeder andere.«
»Und was ist dann da unten?«
Ich zucke die Achseln, sehe keinen Grund, ihm von Anders’ Eltern zu erzählen. Tatsächlich habe ich sie eine Weile vergessen. Aber wenn sie noch dort sind, was wird jetzt aus ihnen? Als ich sie zuletzt sah, waren sie angekettet, aber ich habe in dem Vorhängeschloss einen Schlüssel stecken lassen. Es war der falsche
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