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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Oder wenn auch sie tot wären. Aber das sind sie noch nicht. Warum haben wir den Sack nicht woanders versteckt, wieso musste er in den Brunnen? Es ist mit Abstand der dümmste Ort.

15
    Wie versprochen kommt Vater kurz nach zwölf, um uns abzuholen. Selten habe ich mich so gefreut, ihn zu sehen. Er ist unser Retter, er wird uns hier fortbringen, mir kann es gar nicht schnell genug gehen. Als er mich umarmt, drücke ich ihn fester als gewöhnlich; ich beiße mir auf die Lippen, um nicht heulend zusammenzubrechen. So gern würde ich ihm alles erzählen, aber damit muss ich warten, bis wir in Kopenhagen sind und Jacob im Bett liegt. Und dann muss Vater tun, was zu tun ist. Sicher wird es schrecklich, aber ich freue mich auch darauf, denn wenn ich den Rest der unerfreulichen Geschichte den Erwachsenen überlassen kann, komme ich endlich auch ein wenig zur Ruhe.
    Vater wundert sich über die übertriebene Begrüßung, und er will auch nicht sofort wieder aufbrechen. Er trägt ein hübsches T-Shirt und sieht glücklich aus. Als er mit Mutter verheiratet war, hatte er nur weiße oder schwarze T-Shirts, aber dieses ist gelb. Jacob fällt es auch auf ‒ ich glaube, wir können es beide nicht leiden. Ich bin ziemlich sicher, dass es von seiner neuen Freundin stammt, die um einiges jünger ist als Mutter.
    Nachdem er sich ein bisschen im Haus umgesehen hat, geht er auf die Terrasse, setzt sich in einen Korbsessel, atmet ein paar Mal tief durch und genießt die Aussicht auf den Garten. Die Hände hat er zufrieden über dem Bauch gefaltet, jetzt erinnert mich das gelbe T-Shirt an die Wasserlilien auf meinem Bild im Wohnzimmer. Sofort sehe ich das Blut wieder vor mir, mit dem das ganze Wohnzimmer bespritzt war. MeinKleid hatte sich vollgesogen mit Blut. Ich laufe zur Waschmaschine und hole die Wäsche aus der Trommel. Alles sieht sauber aus, aber mein Kleid würde ich gern wegwerfen.
    Jacob und ich sind ungeduldig, wir möchten beide schnell aufbrechen. Doch als ich Vater bedränge, sieht er mich nur prüfend an.
    »So eilig habt ihr’s doch sonst nicht. Gefällt es euch hier nicht?«
    »Nein!«, entfährt es mir.
    »Nicht mehr«, fügt Jacob hinzu.
    »Wieso? Ich dachte, ihr hättet euch allmählich eingewöhnt?«
    Jacob und ich sehen uns an, mein Blick bringt ihn zum Schweigen. Ich sehe in seinen Haaren irgendein braunes Zeug und wage nicht daran zu denken, woher es stammen könnte. Liebevoll streichele ich ihm über den Kopf, um es zu entfernen.
    »Weil das Haus nachts arbeitet«, sage ich.
    »Was macht das Haus?«
    Ich erzähle ihm von den Bodendielen, die sich in der Sommerhitze ausdehnen und Geräusche von sich geben. Er kapiert es nicht ganz, aber ich kann es auch nicht richtig erklären. Außerdem gibt es noch all die anderen Geräusche aus dem Garten, die wir nicht kennen.
    »Man hört alles Mögliche«, sagt Jacob.
    Vater betrachtet ihn mit demselben forschenden Blick. »Wie hast du geschlafen?«
    »Heute Nacht? Gut, glaube ich.« Jacob schaut Vater verschmitzt an. Dann wendet er sich an mich.
    »Ich glaube, du hast geträumt, Emilie. Offenbar hattest ausnahmsweise mal du heute Nacht Albträume.«
    Wenn er wüsste. Vater zieht Jacob zu sich. Ich bleibe neben meiner gepackten Reisetasche stehen und lege die Arme über Kreuz. Eine Amsel kreischt hysterisch im Garten.
    »Können wir jetzt fahren?« Ich will hier nicht länger bleiben. »Wir haben uns darauf gefreut und wir sind so weit. Nicht wahr, Jacob?«
    »Ich möchte in den Zoo!« Vater nickt und Jacobs Augen leuchten, er läuft in sein Zimmer, denn er ist natürlich noch nicht fertig.
    Wieder sieht Vater mich so forschend an. Dann erhebt er sich und geht ins Wohnzimmer. Er lässt die Augen über die Wände und Möbel gleiten, wer weiß, was ihm durch den Kopf geht. Er stellt sich mitten ins Zimmer, bückt sich und horcht an den Dielen.
    »Jetzt arbeitet das Haus aber nicht, oder?«, fragt er mit einem schiefen Lächeln. Ich gebe ihm recht, es ist alles ruhig. Aber mein Herz klopft, ich habe regelrecht Angst, dass er es hören kann. Er sieht sich um, und ich hoffe, dass wir gestern Abend keinen Blutfleck oder etwas anderes übersehen haben. Lange betrachtet er mein Bild mit den Wasserlilien. Ganz nah tritt er heran, kratzt sich am Kinn, und als auch ich näher herangehe, sehe ich in der linken unteren Ecke einen Fleck. Mein Herz steht Kopf. Aber Vater sagt nichts, außerdem ist der Fleck auch eher braun als rot, es könnte sich durchaus um Kaffee handeln.
    »Also gut,

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