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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schlüssel, er hatte sich verklemmt, aberAnders’ Vater könnte es vielleicht doch geschafft und sich mit dem anderen Schlüssel befreit haben. Auch seine Frau wäre dann frei. Sie hatten jede Menge Zeit, um sich zu befreien. Könnte es sein, dass Jacob sie gehört hat? Vielleicht laufen sie durch die Gänge und geben seltsame Geräusche von sich. Vielleicht waren sie am Brunnen, aber zu schwach, um hinaufzuklettern. Und dann fiel ein großer schwerer Plastiksack hinunter und versperrte den Ausgang. Außerdem wurde Erde in den Brunnen geschaufelt. Mir fällt der zweite Eingang ein ‒ durch den Vorratskeller. Ich atme viel zu hektisch und hoffe, dass Jacob es nicht bemerkt, als ich in die Küche laufe.
    Ich öffne die Luke im Boden und gehe die kleine Treppe hinunter zu den Einmachgläsern. Eigentlich will ich Anders’ Eltern befreien, doch nun kommen mir Zweifel. Sollte ich nicht noch etwas warten? Was wird Jacob sagen, wenn er zwei Fremde sieht und begreift, dass sie dort unten jahrelang eingesperrt waren? Und Schlägen und noch Schlimmerem ausgesetzt waren? Ich glaube nicht, dass er so etwas im Moment braucht, gut kann es für ein hypersensibles Kind jedenfalls nicht sein. Und wer weiß, auf welche Ideen sie kommen, wenn sie das ganze Blut im Wohnzimmer sehen? Immerhin wurde ihr Sohn getötet. Vielleicht überfallen sie Jacob und mich. Nein, am besten, ich warte noch mit ihrer Freilassung, jedenfalls bis das Blut aufgewischt ist. Sie haben so lange dort unten ausgehalten, da kommt es auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht an.
    Ich habe die Luke gerade wieder geschlossen, als Jacob mich aus dem Wohnzimmer ruft.
    »Komm, wir müssen aufräumen«, sagt er, als er zu mir in die Küche kommt. Er nimmt mich bei der Hand und wirkt seltsam ruhig. Vielleicht spürt er, dass ich einem Zusammenbruch nahe bin. »Wir müssen das Blut wegwischen.«
    Beim Anblick des Wohnzimmers wird mir sofort wieder übel. Blut ist auf dem Fußboden, auf dem Couchtisch und an den Wänden, uns erwartet eine gewaltige Arbeit. Erstaunlicherweise lässt Jacob sich überhaupt nicht beirren, er fängt sofort an, mit einem Lappen das Blut aufzuwischen. Ich öffne die Türen und Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Dann hole ich ein paar Putzlumpen und einen Eimer kaltes Wasser, denn Blut muss mit kaltem Wasser behandelt werden ‒ das hat mir Mutter beigebracht, als ich meine Menstruation bekam. Wir säubern die Wände. Wir arbeiten konzentriert und schweigend, abgesehen davon, dass ich Jacob hin und wieder Anweisungen gebe, die er genau befolgt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so gut zusammengearbeitet haben. Nach drei Stunden sieht es einigermaßen manierlich aus. Wir ziehen uns beide um und werfen die dreckigen Sachen in die Waschmaschine. Die Motorsäge wird gereinigt und an ihren Platz im Geräteschuppen gehängt. Aber es gibt noch das Blut, das zwischen die Dielen gelaufen ist. Mit Küchenmessern kratzen wir die Ritzen sauber, es geht überraschend leicht, vielleicht weil sich das Blut mit Frau Larsens Öl verbunden hat.
    Als ich unter den Schreibtisch krieche, finde ich die Leitung von Mutters Telefon. Es sah ziemlich brutal aus, als Anders sie herausgerissen hat, aber der Stecker ist nicht kaputt. Das kleine Plastikteil lässt sich einfach in den Apparat stecken, dann gibt es wieder ein Freizeichen.
    Lange suchen wir nach meinem Handy. Anders hat es in meinem Zimmer in den Korb mit der schmutzigen Wäsche geworfen. Als ich es anstelle, sehe ich auf dem Display, dass Mutter uns gestern versucht hat anzurufen. Bestimmt wird sie sich gewundert haben, warum ich nicht ans Telefon gegangen bin, ich muss mir irgendeine Ausrede ausdenken.
    Es wird spät, bevor wir ins Bett kommen. Und es fällt mir schwer einzuschlafen. Wir liegen in meinem Bett und umarmen uns. Jacob schläft tief, das ist kein gutes Zeichen. Wenn er keine Albträume hat, sind sie gewöhnlich bereits real. Ich schrecke auf, als ich unter mir Klopfgeräusche höre. Sie sind noch dort unten. Mich überkommt Mitleid mit diesen armen Menschen, man muss sie doch befreien. Es ist herzlos, wenn ich ihnen nicht helfe. Ich schalte das Licht auf dem Nachttisch an und beschließe, beim nächsten Geräusch, das von unten hochdringt, sofort aufzustehen und etwas zu unternehmen. Ich werde sie in den Gängen suchen und herauslassen. Das verspreche ich hoch und heilig, allerdings darf Jacob währenddessen nicht aufwachen. Lange liege ich wach und horche, aber es kommen

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