Kopfloser Sommer - Roman
müssen zum Notarzt, sagt er, schnell. Birthe hat sich mit einem Brotmesser verletzt. Ich bemerke, dass Jacobs Bett leer ist. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigt kurz nach zehn, lange habe ich nicht geschlafen. Als ich aufgestandenbin, sehe ich Birthe mit einem Küchentuch um den Hals in der Küche sitzen. Das Küchentuch ist blutig, ihr Gesicht ist kalkweiß. Ich bin mit einem Schlag hellwach. Vater telefoniert im Schlafzimmer, wo ist Jacob? Ich suche im Flur und finde ihn an der Garderobe, er versteckt sich hinter ein paar Mänteln. Ich zerre ihn heraus. Er sieht mich mit einem eigenartigen Blick an, einem Blick, den ich schon einmal gesehen habe.
»Was ist passiert?« Er antwortet nicht, und auch Birthe will nicht heraus mit der Sprache. Ich wiederhole die Frage, als Vater dazukommt.
»Birthe hat sich geschnitten«, sagt er.
»Am Hals? Wie geht das denn?«
»Darüber reden wir später, Emilie. Wir müssen los.«
Birthe sieht keinen Grund, dass Jacob und ich mitkommen; ich kann doch auf meinen kleinen Bruder aufpassen. Aber Vater ist der Ansicht, dass wir uns jetzt nicht trennen sollten, und ich bin seiner Meinung. Ich hege einen Verdacht gegen Jacob ‒ und wenn ich tatsächlich recht habe, wäre ich nicht gern allein mit ihm.
Als Vater losfährt, stoße ich Jacob an, damit er etwas sagt. Wieso ist er vor mir aufgestanden? Was zum Teufel hat er angestellt? Er flüstert mir eine Geschichte zu, von der ich kein Wort verstehe: Vater und Mutter sind auserwählt, König und Königin in dem Land unter unserem Garten zu sein. Dort gibt es ein Schloss, das auf sie wartet, und nur er und ich kennen den geheimen Eingang. Ich werde die Prinzessin sein und er natürlich der Prinz. So ist es, und wenn ich es nicht glaube, könne ich ja Onkel Anders fragen. Ich zucke zusammen, als ich seinen Namen höre.
»Anders?«, frage ich leise zurück.
Jacob nickt nur und blickt mir in die Augen. Und mich durchfährt ein Schauder, das ist nicht der Jakob, den ich kenne. Er blickt aus dem Fenster und murmelt leise etwas vor sich hin. Vater sieht mich fragend im Rückspiegel an, was gibt es zu flüstern? Mir kommen die Tränen. Ich kann nicht mehr, ich begreife nicht, was mit meinem Bruder los ist, alles wird schlimmer und schlimmer. Jacob lehnt seinen Kopf an meine Schulter ‒ ich glaube, jetzt ist er tatsächlich eingeschlafen.
»Er hat eine halbe Schlaftablette bekommen«, erklärt Vater.
Jetzt verstehe ich es besser: Er hat mir diese Geschichte im Halbschlaf erzählt, unheimlich war sie aber trotzdem. Ach, ich wünschte, ich könnte auch schlafen und alles wäre nur ein Traum.
»Jacob schläft, vielleicht darf ich jetzt erfahren, was mit deinem Hals passiert ist, Birthe?«, erkundige ich mich.
Sie schaut Vater unsicher an, traut sich nicht, etwas zu sagen. Sie überlässt die Antwort ihm.
»Emilie, er wollte Birthe nur etwas zeigen, aus Spaß.«
»Was wollte er denn zeigen?«
»Wo man ansetzen muss, wenn man jemandem den Hals abschneiden will. Irgendetwas mit der Hauptschlagader. Sie hat in der Küche abgewaschen, als er zu ihr kam.«
»Ich dachte, er hätte geschlafen?«
»Das dachten wir auch.«
Vaters Handy klingelt, und als er den Anruf annimmt, höre ich Mutters Stimme. Sie hat ihren Kuraufenthalt abgebrochen und ist auf dem Weg nach Hause; sie ist bereits in Malmö. Sie ist verzweifelt, aber auch wütend, ihre Stimme ist deutlich zu hören. Vater sagt nur ja oder nein. Offenbar haben sie am Abend schon einmal miteinander telefoniert. Und sie beschimpft Vater, ich ahne, warum. Er hätte uns seine neue Freundin nicht so schnell vorstellen dürfen, das sei unverantwortlich. Vater gibt mir das Telefon, Mutter möchte mit mirsprechen. Niemand hat Jacob etwas getan, versichere ich ihr, und es war sein eigener Wunsch, Birthe kennenzulernen. Sie ist sehr nett zu ihm gewesen.
»Aber warum seid ihr gestern Abend nicht ans Telefon gegangen. Ich hab ein paar Mal angerufen, auch auf deinem Handy?«
»Wirklich? Habe ich nicht gehört, aber, na ja, wir waren oben im Schlafzimmer. Wir hatten den Fernseher laut gestellt und sind im Bett herumgehüpft.«
Diese Erklärung habe ich mir ausgedacht, und wie es scheint, schluckt Mutter sie. Sie kann sich vorstellen, dass Jacob und ich so etwas anstellen, wenn wir allein sind. Ich wundere mich, wie leicht es mir fällt zu lügen, aber eigentlich bin ich nicht besonders stolz darauf. So etwas macht man eben, wenn man ein Verbrechen vertuschen will. Tatsächlich habe ich das Gefühl, in
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