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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gehen sie auf die Terrasse, um sich draußen weiterzuunterhalten, inzwischen ist ihr Ton freundlicher geworden. Sie streiten sich jedenfalls nicht, das ist schön.
    Ich setze mich zu Jacob aufs Sofa, lege eine Decke über ihn. Er sieht so lieb aus, ich küsse ihn auf die Wange. Was soll nur aus ihm werden? Er tut mir wirklich leid.
    »Ich werd’ schon«, murmelt er im Schlaf.
    Sein kleiner Kopf dreht sich von der einen zur anderen Seite, es sieht aus, als würde ihn etwas quälen. Wer weiß, wovon er träumt. »Ich versuche es wieder, bald, das verspreche ich. Beim nächsten Mal mach ich es richtig.«
    Seine Hand verkrallt sich im Sofakissen. Mit wem redet er? Hat er so etwas Ähnliches nicht auch gesagt, als ich an der Tür seines Zimmers gelauscht habe? Ich bleibe bei ihm, bis er sich wieder beruhigt hat. Dann gehe ich in sein Zimmer und suche. Da ist etwas unter seinem Bett, es sieht aus wie ein in Zeitungspapier eingewickelter Fußball.
    Ich ziehe es hervor und wundere mich, dass es so schwer ist. Langsam packe ich es aus. Die innere Lage des Zeitungspapiers ist blutig, meine Hände zucken zurück. Was zum Teufel versteckt Jacob hier? Es riecht süßlich-schwer und verdorben, es fällt mir schwer, weiter auszupacken. Aber ich kann auch nicht aufhören. Vorsichtig löse ich die letzte Lage Papier und sehe langes schwarzes Haar und ein Stück eines Ohrs. Ich wende den Blick ab, atme tief durch und entferne das restliche Papier. Anders’ Augen starren mich derart lebendig an, als könnte er noch immer damit sehen. Sein Kopf, für den ich so viel empfunden habe. Seine Lippen, die ich geküsst habe, seine Ohren, in die ich Geheimnisse geflüstert habe und die nun ganz weiß sind.
    »Was machst du da, Emilie?«. Ich zucke zusammen. Jacobsteht in der Tür und schaut mich wütend an.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Und ich wundere mich, dass er plötzlich so wach sein kann. Es sei denn, er schlafwandelt, das ist früher schon vorgekommen. Aber dann redet er gewöhnlich wirres Zeug und weiß nicht, wo er ist. Jetzt ist es anders. Er geht direkt auf mich zu, nimmt den Schädel und legt ihn auf den Nachttisch.
    »Das ist meiner«, erklärt er. »Du lässt die Finger davon. Ich brauche ihn.«
    »Wozu?« Zum ersten Mal habe ich wirklich Angst vor meinem kleinen Bruder.
    »Er erzählt mir etwas. Wichtige Dinge. Alles, was ich machen soll.«
    »Zum Beispiel Birthe den Kopf abschneiden?«
    »Nein, auf die Idee bin ich selbst gekommen.« Er richtet sich auf und wirkt geradezu stolz. »Aber er sagt, dass Vater der neue König in dem Land wird, das unten im Brunnen liegt, und Mutter die Königin. Ich soll ihnen dabei helfen.«
    »Aber es gibt kein Land unten im Brunnen, Jacob, wie kommst du denn darauf? Hör auf mit diesen kranken Fantasien.«
    Jacob beugt sich vor und flüstert: »Ich weiß. Aber es gibt etwas ganz anderes. Doch das habe ich ihm noch nicht erzählt, denn dann würde er nur traurig sein.« Er setzt sich aufs Bett. Von der Terrasse hören wir die Stimmen unserer Eltern, die plötzlich laut lachen. Dann wird es ganz ruhig.
    »Wir bleiben nämlich einfach hier, wo wir wohnen. Vater ist zurück und alles ist gut.«
    »Nein, Jacob, es ist nicht alles gut.«
    »Doch, pst, er sagt etwas, hörst du?«
    Ich horche, höre aber nichts.
    »Was sagt er?«
    Jacob rutscht dichter an den Schädel, legt sein Ohr direkt an die Lippen und schaut mich dabei an. Er wird ihn jetzt doch nicht auffordern, auch mir etwas anzutun? Gleich rufe ich um Hilfe.
    »Er entschuldigt sich.«
    Das ist so ungefähr das Letzte, was ich erwartet habe. Ich kann noch immer um Hilfe rufen.
    »Entschuldigt sich? Wofür?«
    Jacob hört wieder zu und scheint sich wirklich konzentrieren zu müssen, um alles zu verstehen. Allmählich verliere ich die Geduld.
    »Was sagt er, Jacob?«
    »Er sagt, er übernimmt die volle Verantwortung. Wir sollen uns keine Vorwürfe machen. Auch ich nicht. Er wünscht uns einen schönen Sommer.«
    Jacob packt den Kopf wieder in das Zeitungspapier und stellt ihn unters Bett.
    »Du sagst Mama und Papa nichts, oder? Ich will da nicht hin, wo ich eingesperrt werde und niemanden kenne.«
    Ich streichele ihm über den Rücken, bringe ihn zu Bett.
    »Du kannst ganz beruhigt sein, ich passe auf dich auf«, sage ich. Denn ich bezweifle, dass er die Einweisung in ein Heim und die Trennung von seiner Familie überstehen würde. Wie sollten die ihm helfen können? Diese Ärzte und Psychologen. Anders’ Mutter war Psychologin, der

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