Kopfloser Sommer - Roman
einem Fernsehfilm mitzuwirken ‒ einem dieser Filme, bei denen man zunächst an eine Liebesgeschichte glaubt, bis sich herausstellt, dass es sich um einen Krimi handelt.
Mutter verspricht, bald zu Hause zu sein. Und sie besteht darauf, dass wir dort sind, wenn sie kommt. Dann wollen wir gemeinsam entscheiden, wie es weitergeht. Sie will auch mit Jacob reden, denn sie kann seine Stimme im Hintergrund hören. Aber er redet nur im Schlaf und brabbelt irgendwelchen furchtbaren Unfug über einen Kopf, der mit einer Motorsäge abgeschnitten wird, und eine Leiche, die in einem Brunnen versteckt werden soll. Zum Glück hört niemand zu.
In der Notaufnahme schauen sie ziemlich skeptisch, als wir mit Birthe erscheinen. Leider darf ich nicht zusehen, wie eine Krankenschwester das Küchentuch entfernt; ich hätte mir die Wunde schon gern angesehen. Sie ist so tief, dass sie genähtwerden muss, Birthe wird sofort behandelt. Wir müssen im Wartezimmer Platz nehmen.
Die skeptischen Blicke lassen nicht nach, vor allem Vater wird misstrauisch beobachtet. Das Personal und die übrigen Patienten wundern sich offenbar darüber, woher Birthe solch eine Wunde am Hals hat ‒ Jacob trauen sie das jedenfalls nicht zu. Eher halten sie Vater für den Täter. Einer der Patienten baut sich sogar vor ihm auf und erklärt, er müsse lernen, sich unter Kontrolle zu halten. Vater bekommt einen knallroten Kopf, er tut mir wirklich leid.
Was erzählt Birthe wohl dem Arzt? Hoffentlich nicht die Wahrheit? Die Zeit zieht sich, Vater wird hineingerufen, dann kommt er zurück, erzählt aber nicht viel. Seufzt nur schwer. Vermutlich haben sie die Geschichte ein wenig geschönt, aber von mir aus ist das in Ordnung.
Mir fällt ein Stein vom Herzen, als Vater sagt, wir könnten jetzt fahren. Birthe wurde genäht, sie wird eine Narbe zurückbehalten, aber keine dauerhaften Schäden. Sie hat gesagt, wir müssen nicht auf sie warten, sie würde ein Taxi nach Hause nehmen.
Vater nimmt Jacob auf den Arm, wir gehen zum Wagen. Ich hätte mich gern von Birthe verabschiedet und ihr gute Besserung gewünscht. Aber vielleicht hat sie auch genug von uns. Ich glaube kaum, dass Jacob und sie so schnell Freunde werden.
Auf der Heimfahrt zu Mutter denke ich über Jacob nach. Was wird mit ihm passieren? Sicher, ein bisschen eigenartig war er schon immer, aber noch nie direkt boshaft. Er ist nicht wie die Hauptperson in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die ich neulich gelesen habe, er hat keine zwei Identitäten. Er erträgt sich nur manchmal selbst nicht, und daher benimmt er sich hin und wieder falsch. Dafür kann er nichts.Böse zu reagieren ist nicht dasselbe wie böse sein. Ich bin überzeugt, dass es ihm leidtut und er einfach ein paar Dinge falsch verstanden hat.
Mutter hat sich offenbar ähnliche Gedanken gemacht. Kaum treten wir in die Tür, nimmt sie den schlafenden Jacob auf den Arm und sagt: »Er hat etwas Böses getan, aber deshalb ist er nicht gleich böse; ich bin sicher, dass es einen Grund dafür gibt.«
Vater widerspricht nicht, allerdings ist er der Ansicht, dass sie etwas unternehmen müssen. Während sie hin und her diskutieren, sitzt Jacob auf Mutter Schoß. Egal, er schläft ja. Vater ist empört, warum hat Mutter nicht schon früher eingegriffen? Gab es denn keine Warnsignale? Mutter fühlt sich verletzt und holt zum Gegenschlag aus: Es muss etwas passiert sein, als wir zu Besuch bei Vater waren, denn normalerweise reagiert Jacob nicht so. Ich soll auch etwas dazu sagen und versichere, dass Birthe wirklich nett zu ihm gewesen ist. Wieso ist es so weit gekommen? Mutter legt Jacob aufs Sofa. Vater streicht ihm übers Haar und meint, es handele sich vielleicht um eine verspätete Reaktion auf die Scheidung. Sie hat Jacob wirklich mitgenommen, er hofft ja noch immer, dass Mutter und Vater wieder zusammenfinden. Kann man gleichzeitig hypersensibel und gewalttätig sein?, fragt Mutter. Vater versteht es auch nicht. Es ist hart, den Tatsachen ins Auge zu sehen, aber Jacobs Verhalten gibt allen Anlass zur Sorge.
Mir fällt auf, dass sie das Wort Verhalten an diesem Abend ziemlich häufig verwenden. Immer in Verbindung mit Jacob. Benutzen sie den Ausdruck auch irgendwann einmal in Verbindung mit sich selbst? Und was ist mit meinem Verhalten? Darüber machen sie sich keine Gedanken, aber sie wissen ja auch nicht, was ich weiß. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, ihnen alles zu erzählen. Beide sind hier und Jacobschläft.
Aber jetzt
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