Kopfloser Sommer - Roman
Vater Psychiater, und wenn ich daran denke, was sie mit Anders gemacht haben, habe ich wirklich Angst um Jacob. Vielleicht experimentieren sie mit ihm? Um ein Buch über ihn zu schreiben? Besser, ich kümmere mich um ihn und gebe ihm die Geborgenheit, nach der er sich so sehnt.
»Sing für mich«, bittet er.
Ich singe ein paar Lieder, aber diesmal nicht das von denfünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste. Unter anderem Fuchs, du hast die Gans gestohlen , aber ungefähr in der Mitte des Liedes fällt mir ein, dass gleich die Stelle kommt, wo von der roten Tinte die Rede ist, »und dann bist du tot«. Ich breche ab, simuliere einen Hustenanfall und stimme Schlaf, Kindchen, schlaf an. Der Übergang ist nicht sonderlich elegant, aber das ist nicht schlimm, denn Jacob schläft bereits wie ein Stein. Nur die Augen sind noch immer halb offen, es sieht unheimlich aus.
Ich bücke mich und ziehe Anders’ Kopf unter dem Bett hervor, nehme ihn unter den Arm und gehe ins Wohnzimmer. Vater und Mutter sitzen noch immer auf der Terrasse, sie unterhalten sich prächtig. Sie haben sich Wolldecken umgelegt und eine Kerze angezündet, es sieht richtig romantisch aus. Soll ich ihnen zeigen, was ich unter dem Arm trage? Einen bluttriefenden, abgesägten Kopf? Und soll ich ihnen erzählen, dass der Täter ihr achtjähriger Sohn ist?
Ich setze mich mit dem Kopf im Schoß an die Tür und hoffe, dass sie mich bemerken. Ich möchte, dass alles ein Ende hat, aber es ist leichter, wenn sie mich fragen ‒ leichter, als wenn ich es selbst erzählen müsste. Doch sie sind vollkommen in ihre Unterhaltung vertieft und sehen überhaupt nicht in meine Richtung. Ich setze mich zu ihnen und huste, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie lächeln mir zu, aber sie reden nicht mit mir und wollen auch nicht wissen, was in meinem Schoß liegt.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Natürlich wäre es schön, wenn ich erzählen könnte, was genau passiert ist, es würde mein Herz erleichtern, aber sie scheinen nicht sonderlich interessiert zu sein. Vielleicht ist es auch ganz gut so, es würde nur die angenehme Stimmung ruinieren, jetzt und für immer. Außerdem soll man ja auch nicht immer nur an sich denken. Sondern auch an andere, vor allem an seine Familie. Nicht zuletzt an meinen kleinen Bruder, der nicht ganz gesund ist.
Nur muss ich diesen Kopf irgendwie verschwinden lassen.
Ich gehe aus der Haustür Richtung Mülleimer, entscheide mich aber im letzten Augenblick anders. Der Mülleimer ist kein sicherer Ort, ich muss ihn im Garten begraben.
Vater und Mutter sind so mit sich beschäftigt, dass sie nicht merken, wie ich in den Garten gehe und zwischen den Büschen verschwinde. Ich gehe zum Brunnen, fast wie von selbst. Als ich näher komme, bleibe ich immer wieder stehen und horche. Der Wind rauscht in den Bäumen, eine Eule schreit, Fledermäuse fliegen mir um den Kopf. Aber das ist normal. Am Brunnen bleibe ich lange stehen und halte den Atem an. Ist die Stelle wirklich sicher? Im Nachhinein hätte ich den Plastiksack nicht in den Brunnen geworfen. Ruft da jemand unter meinen Füßen? Gehen die Ruhelosen um und versuchen an die Oberfläche zu gelangen?
Ich gehe zu den Tannen, wo ich die Erde geholt habe, und fange an zu graben. Dies ist die richtige Stelle, um den Kopf zu verstecken. Ich benutze die Schaufel, denn es muss tief gegraben werden. Aber wie viel ich auch grabe, es ist immer noch nicht tief genug. Und vielleicht hätte ich auch an einer anderen Stelle graben sollen, denn plötzlich bricht der Boden unter mir ein. Ein Bein verschwindet in einem Loch, dort muss einer der unterirdischen Gänge sein. Mit aller Kraft versuche ich das Bein herauszuziehen, und als es mir endlich gelingt, rutscht das andere in das Loch. Am liebsten würde ich schreien. Wo ist der Schädel? Verwirrt sehe ich mich im Halbdunkel um. Ich sehe ihn nicht. Vielleicht ist er in das Loch zu seinen Eltern gefallen?
Verzweifelt versuche ich, mich hinaufzuziehen, aber ichrutsche immer tiefer. Die Decke des unterirdischen Gangs, auf den ich gestoßen bin, stürzt allmählich ein, ich habe Angst, ganz hinunterzufallen. Ich kämpfe verbissen, aber meine Anstrengungen führen nur dazu, dass immer mehr Erde unter mir wegbröckelt.
Dann rutsche ich mindestens einen Meter tief, ich habe das Gefühl, auf dem Boden eines Grabes zu stehen, überall ist Erde. Vor mir sehe ich eine Öffnung. Offenbar der Zugang in einen der Gänge, aber ich will da nicht hinein, denn irgendwo dort
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