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Korona

Korona

Titel: Korona Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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größte Teil der Beleuchtung kam aus Schalen, in denen duftendes Öl verbrannt wurde. Rußgeschwärzte Wände und dunkle Holzbalken zeugten davon, dass die Lampen niemals verloschen. In Abständen von vielleicht fünf oder sechs Metern traten rippenähnliche Vorsprünge aus den Wänden hervor, die zur Decke hinaufreichten, wo sie einander kreuzten.
    Amy hatte das Gefühl, im Bauch eines riesigen Wals zu stehen.
    Der Eindruck wurde durch eine Reihe von Darstellungen vertieft, auf denen tatsächlich so etwas wie Wale dargestellt waren. Allerdings waren es riesige, schwebende Kreaturen, die auf breiten Schwingen die unermesslichen Weiten des Bernsteinmeeres durchkreuzten. Zog man die kleinen Jagdschiffe im Vordergrund als Maßstab heran, bekam man eine Vorstellung davon, wie gewaltig diese Kreaturen sein mussten.
    Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle führte eine Treppe zu einem mächtigen Thron hinauf. Amy erkannte, dass sowohl der Thron als auch die Plattform aus Knochen bestanden. Rippen, Oberschenkelknochen, Schädel – viele tausend Relikte menschlichen Lebens. Praktisch die gesamte Empore war aus den Gebeinen erschlagener Feinde zusammengesetzt. Rechts und links des Thrones ragten zwei gewundene Hörner in die Luft, die so gewaltig waren, dass die beiden Wachposten daneben wie Zwerge anmuteten. Offenbar existierten in dieser Welt Kreaturen, die das menschliche Fassungsvermögen um einiges überstiegen.
    Rechts neben dem Thron stand ein zweiter, kleinerer Thron. Aus schwarzem Holz geschnitzt und mit roten Polstern belegt sah er sehr viel komfortabler aus, auch wenn er für einen normalen Erwachsenen eigentlich zu klein war.
    Amy überlegte, wem er wohl gehören mochte, als die Türen zu Füßen der Empore aufgingen und etliche Kriegerinnen die Halle betraten. In rote Umhänge gehüllt boten sie einen atemberaubenden Anblick. Die langen, pechschwarzen Haare waren hochgesteckt und mit roten und goldenen Bändern verziert, an denen kleine Metallplättchen befestigt waren, die die Luft mit feinem Klingeln erfüllten. Die ebenholzfarbenen Gesichter waren mit roten Symbolen bemalt, was ihnen ein ebenso gefährliches wie exotisches Aussehen verlieh. In den Händen hielten sie Speere und Schilde und an den Gürteln schimmerten Schwerter. Ernst und durchtrainiert, mit Muskeln, die an Raubtiere erinnerten, betraten sie den Saal und reihten sich entlang der Treppenflucht auf.
    Dann erschien ein Herold auf der oberen Plattform. Über seiner Schulter hing ein geschwungenes Blasinstrument, das so aussah, als hätte man es aus dem Horn eines großen Tieres gefertigt. Der Mann setzte es an die Lippen und entlockte ihm einige schaurig klingende Töne. Zwei weitere Wachen traten ein, die sich rechts und links der beiden Herrschersitze postierten. Dann betrat die Kaiserin den Saal.
    Amy nahm die Frau näher in Augenschein. Sie mochte um die dreißig Jahre alt sein und war – bis auf einen kurzen Rock und ein martialisch anmutendes Wehrgehänge – nackt. Kein Ring, kein Armreif und keine Halskette schmückten ihren Körper. Wäre nicht die filigrane, prächtig gearbeitete Tiara auf ihrem Kopf gewesen, man hätte sie leicht für eine Sklavin halten können.
    Die Kaiserin war nicht sehr groß. Amy hatte zwar aufgrund der Perspektive Schwierigkeiten, ihre Größe einzuschätzen, tippte aber, dass sie nicht mehr als einen Meter fünfzig maß. Sie war schlank, muskulös und von stolzem Wesen. Wenn sie ging, tat sie das mit einer Haltung, als würde sie ein Wassergefäß auf ihrem Kopf balancieren. Ihr Gesicht war schmal geschnitten, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Einzig ihre Augen passten nicht zu dieser Schönheit. Vielleicht lag es daran, dass sie zu dicht beisammen standen, vielleicht waren es auch die zusammengewachsenen Brauen, jedenfalls lauerte eisige Kälte in ihnen.
    Ihr zur Seite betrat ein etwa sechsjähriger Knabe die Bühne. Ein fetter, gedrungener Junge mit Pausbacken, fleischigen Lippen und einem gelangweilten Ausdruck im Gesicht. Anders als seine Mutter war er in kostbare Tücher gehüllt, die mit Gold und Edelsteinen behangen waren. Der Junge trat auf seine Mutter zu, steckte eine ihrer Brustwarzen in den Mund und begann zu saugen. Nuckelnd und mit Verachtung im Blick schaute er auf die Menschen im Thronsaal herab.
    Amy lief es kalt den Rücken hinab.
    Nach einer Weile hatte die Herrscherin genug von dem Gesauge und scheuchte den Sprössling fort. Mit miesepetrigem Gesicht verkroch er sich auf

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