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Korona

Korona

Titel: Korona Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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verstummte er. Das Geflecht war in seine Kehle eingedrungen.
    Amy taumelte zurück. Sie wollte den Blick abwenden, aber sie konnte nicht. Sie hatte der Medusa direkt in die Augen gesehen. Sie stolperte, taumelte, dann fiel sie rücklings zu Boden. Der grüne Hügel wogte und zuckte, während Dans Körper vollständig überrollt wurde. Nicht das kleinste Stückchen Haut, nicht die Spitze eines Schuhs war mehr zu sehen.
    Dann wurde es still. Ein Zittern lief über die Wurzeln. Die Bewegung geriet ins Stocken und verebbte dann. Sekunden des Grauens verstrichen, dann wich die Pflanze zurück. Amy traute dem Frieden nicht, doch es konnte keinen Zweifel geben. Die Pflanze gab Dans Körper wieder frei. Es begann in den feinen Hyphen und setzte sich bis in die fingerdicken Ranken fort. Rauschend und knisternd verschwand das Grünzeug, schmolz wie Butter in der Pfanne.
    Dan lag auf dem Boden, gekrümmt wie ein Embryo. Er glänzte vor Feuchtigkeit, als wäre er eben erst geboren worden. Amy sprang auf und eilte zu ihm hinüber. Sie ging neben ihm in die Hocke und hielt ihr Ohr an seinen Mund. Zur Sicherheit tastete sie nach der Schlagader an seinem Hals. Kein Zweifel: Sein Puls war schwach und unregelmäßig, aber er lebte.
    Eine Woge der Erleichterung ergriff sie.
    »Dan?« Sein Körper war kühl und klamm. Die Pflanze hatte ihm jede Wärme entzogen. Amy rieb ihm über Schultern und Arme. Was da so feucht war, schien Pflanzensaft zu sein. Es klebte kein Tropfen Blut an ihm. Die kleinen Verletzungen hatten sich auf wundersame Weise geschlossen. Amy tastete ihn ab, konnte aber keine Überreste der Pflanze an ihm entdecken, weder auf noch unter seiner Haut. Das seltsame Geflecht war vollständig von ihm abgefallen.
    »Dan, wach auf, es ist vorbei.«
    Ihr Freund stieß ein leichtes Stöhnen aus. Unruhig bewegte er seine Beine. Er war dabei, wieder das Bewusstsein zu erlangen. Sie bettete seinen Kopf auf ihren Schoß und blickte argwöhnisch in die Runde. Die seltsame Pflanze hatte einen freien Kreis von mindestens drei Metern Durchmesser gebildet.
    Innerhalb dieses Kreises war nicht das kleinste Stück Pflanzenmaterie zu entdecken. Als würden die Ranken Ekel empfinden. Amy war das nur recht. Sie hasste diese Lebewesen, mochten es nun gewöhnliche Pflanzen sein oder irgendetwas anderes.
    Plötzlich drang ein sanftes Rauschen an ihr Ohr. Im hinteren Teil der Halle, dort, wo ein einzelner Sonnenstrahl die Dunkelheit erhellte, war eine Bewegung zu erkennen. Erst schwach, dann stetig größer werdend, breitete sich das Gewimmel aus. Flechten schossen aus dem Boden, umwirbelten einander, verdichteten sich und formten einen Körper von grotesken Proportionen. Zuerst glaubte Amy, ihre Sinne würden ihr einen Streich spielen, doch je länger sie hinsah, umso deutlicher wurde, dass die Flechten die Formen einer Kreatur annahmen. Sie besaß Arme und Beine, einen Unter- und Oberkörper, einen kurzen Hals und ein langgestrecktes Haupt. Ein gleißender Lichtstrahl traf eine Oberfläche, die glänzte wie ein Tümpel aus Öl. Schlangen aus öliger Materie wirbelten umeinander, während die Gestalt immer konkretere Formen annahm.
    Eine Weile verharrte das Wesen in seiner kauernden Stellung, dann hob es den Kopf und stieß einen schaurigen Laut aus.
    Amy schoss es wie ein Blitzstrahl durch den Kopf. Sie waren nicht allein. Sie waren es nie gewesen. Man hatte sie in den Tempel eines N’ekru gestoßen.
    Und er war gerade erwacht.

67
    Der Namenlose ließ seinen Blick schweifen.
    Zwei Menschen waren bei ihm. Drüben, auf der anderen Seite der Halle. Wanderer, das spürte er sofort. Die Angst hing über ihnen wie ein Fliegenschwarm. Ihre Furcht war intensiv und unverfälscht, rein und klar, ohne die betäubende Wirkung von Kräutern oder Drogen, wie er es von seinen anderen Opfern gewohnt war. Ihre Angst war … jungfräulich.
    Er stand auf und streckte seine Gliedmaßen. Das Licht der Sonne fuhr über ihn und erfüllte sein Herz mit Gier. Die Zeit war gekommen, sich den Neuankömmlingen erkennen zu geben.
    Mit langsamen Schritten verließ er seinen angestammten Platz. Er trat aus dem Dunkel und schlurfte in Richtung der Eingangspforte. Vorbei an den steinernen Reliefen seiner Ahnen und den Tafeln des Delos, die feucht vom Wasser der heiligen Quellen im Sonnenlicht glänzten. Die Bilder von dahingemetzelten Opfern erinnerten ihn daran, dass er seit Ewigkeiten nichts gegessen hatte. Seine Gier war kaum noch zu bezähmen.
    Dan schlug die Augen auf.

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