Korona
Foto in den Vordergrund, eine Schwarzweißaufnahme. Eine Studentengruppe. Im Vordergrund saßen zwei Jungen und ein Mädchen. Das Licht schien ihnen ins Gesicht. Er selbst war einer davon. Dünne, schwache Menschenwesen, kaum würdig, genauer betrachtet zu werden. Das Mädchen war tot. Sie starb, kurz nachdem diese Aufnahme gemacht wurde. Es war der Junge rechts von den anderen, dem seine Aufmerksamkeit galt. Dünn und schmächtig hockte er da und lächelte in die Kamera. Ein Gesicht, das kein Wässerchen trüben konnte. Und doch stimmte es in überraschendem Maße mit dem finsteren, bedrohlichen Gesicht überein, das er eingangs gesehen hatte.
Aber er hatte noch mehr gesehen. Matthew Griffin und Ray Cox waren ein und derselbe Mann. Ein Mann, der sich geschworen hatte, ihn zu töten. Er hatte Isolationshaft und Drogenhölle überstanden, nur um ihm nach Afrika zu folgen. Und jetzt war er hier.
Burke sah eine Insel in Amys Geist. Er wurde zum Zeugen ihres Kampfes mit den Kitarern, und er sah, dass Cox selbst größte Schmerzen und Entbehrungen ertrug, um seinem Ziel näher zu kommen. Doch da war noch etwas anderes. Ein Gefühl, das ihn stutzig machte. Er tastete tiefer. Ja dort.
Konnte es sein, dass Amy etwas für diesen Mann empfand?
War es … Liebe?
Die Wurzelfäden schossen aus dem Kopf und verschwanden im Rankengeflecht seiner Hände. Ohnmächtige Wut überrollte ihn. In einem Anfall blinder Raserei ließ er seinen Arm gegen das Tor krachen. Staub rieselte von der Decke und hüllte ihn ein. Sein alter Widersacher war ihm gefolgt. Er trachtete ihm nach dem Leben und besaß auch noch die Dreistigkeit, sein Mädchen zu stehlen? Der Namenlose ließ die Biologin los. Wenn Cox einen Kampf wollte, so sollte er ihn bekommen.
Amy versuchte, möglichst schnell Abstand zu der widerwärtigen Kreatur zu bekommen. Das Wesen hatte sich aufgerichtet und schlug gegen das steinerne Tor. Es schien furchtbar in Rage zu sein. Immer wieder donnerte es mit seiner Pranke gegen das Tor, bis der Tempel in seinen Grundfesten erzitterte.
Mit hastigen Bewegungen tastete sie ihren Körper ab. Wie es schien, waren alle Fasern verschwunden. Auch ihre Wunden waren verheilt, sie verspürte nicht mal mehr Schmerzen.
Eigentlich hätte sie jetzt tot sein müssen. Sie hatte die Wurzelfäden in ihrem Kopf gespürt. Sie hatte gespürt, wie die feinen Flimmerhaare ihre Nervenzellen betastet hatten. Jeden Moment hatte sie damit gerechnet, zerquetscht zu werden. Und dann …? Nichts. Sie war verschont worden. Warum hatte das Biest sie am Leben gelassen?
Einen Moment lang hatte sie in sein Inneres geschaut, hatte das Leben eines Menschen, den sie einmal zu kennen glaubte, in kaleidoskopischen Bildern gesehen, nur um dann mitzuerleben, wie er zu etwas anderem wurde. War das wirklich noch ein Mensch? Nein, entschied sie. Vielleicht war er es früher einmal gewesen, jetzt war er nur noch ein Ungeheuer. Eine atmende, tötende Pflanzenmutation, Ausgeburt einer botanischen Hölle. Ein Wesen, das nur noch eines verdiente: zu sterben.
Tiefes Rumpeln drang durch die Halle. Ein schmaler, heller Schlitz zerteilte die Wand und wurde rasch größer. Gleißende Helligkeit durchströmte den dunklen Saal und zwang sie, die Augen zu schließen. Kriegerinnen stürmten herein, packten sie und zerrten sie ans Tageslicht.
Draußen bot sich ihr ein seltsames Bild. Der N’ekru hatte die Halle verlassen und stand inmitten eines Kreises ehrfurchtsvoll dreinblickender Kitarer. Viele hatten ihr Haupt geneigt oder blickten, von Furcht ergriffen, zur Seite. Manche, so wie Oyo, waren gar vor ihm in den Staub gesunken. Alle waren in Demut versunken, außer der Kaiserin. Sie war die Einzige, die es wagte, dem Ungeheuer zu trotzen. Hocherhobenen Hauptes stand sie vor dem Pflanzenwesen und bot ihm die Stirn.
Die Kreatur sah bei Tageslicht noch viel widerwärtiger aus. Seine dunkelgrüne Haut glänzte vom Blut seines Opfers. Seine Fußstapfen zeichneten dunkelrote Flecken in den Sand.
Zwischen der Herrscherin und der Kreatur entspann sich ein kurzer, zischender Wortwechsel, der darin endete, dass das Wesen in Richtung der kaiserlichen Galeone davonstampfte.
Maskal Kibra Lalibela stand einen Moment unschlüssig da, dann erteilte sie ihren Untergebenen den Befehl, aufzustehen und dem N’ekru zu folgen. Oyo rappelte sich auf, klopfte den Staub von seinem Umhang und ging auf Amy zu. Sein Gesicht war schreckensbleich. Ihm war anzusehen, dass er von der Entwicklung genauso
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