Korona
weiter über das Deck wandern. Etwas abseits stand eine einzelne Person, die gedankenverloren in die Wolken blickte. Sie hatte schwarzes Haar, helle Haut und trug verschmutzte Kleidung. Für eine Sklavin sah sie reichlich merkwürdig aus. Das letzte Licht der untergehenden Sonne schien auf ihr Gesicht und ließ es für einen kurzen Moment aufschimmern. Als sie ihren Kopf hob, trafen sich ihre Blicke.
Ray glaubte, sein Herz würde aussetzen.
»K’baa«, zischte er. »Kannst du die Frau sehen?« Er deutete nach rechts. »Die mit der hellen Haut und den schwarzen Haaren. Das ist Amy.« Seine Gesten waren hektisch und undeutlich, doch K’baa schien ihn zu verstehen. Er nickte und signalisierte Ray, er solle sich ruhig verhalten.
Majestätisch glitt das Schiff vorüber und die Biologin wurde schon wieder kleiner. Sie hatte ihn nicht erkannt. Wie gern hätte er ihr ein Zeichen gegeben oder ihr etwas zugerufen, aber das wäre reiner Selbstmord gewesen.
»Wir müssen irgendetwas tun«, sagte er in seiner Verzweiflung. Er konnte nicht verstehen, wieso K’baa nichts unternahm.
Ruhe,
signalisierte sein Freund.
Sieh geradeaus und lass dir nichts anmerken.
Ray knabberte an seiner Unterlippe. K’baa hatte recht. Er durfte sich jetzt nicht zu unbeherrschten Aktionen hinreißen lassen. Er hatte Amy gesehen, und sie war am Leben. Das allein war Grund zur Freude.
Die Sonne war nun hinter den Wolken verschwunden und überzog den Himmel mit violettem Zwielicht. Dunkle Gewitterwolken drohten am Horizont. Als die Galeone weit genug entfernt war, kletterte K’baa an Deck.
»Und? Was tun wir jetzt?«
Der Gorilla ergriff ein Stück Zeichenkohle und zeichnete etwas auf die Holzplanken. Ray beugte sich vor.
Dreh das Schiff herum. Ich habe einen Plan.
Er hob den Kopf. »Im Ernst?«
K’baa entblößte seine Zähne.
70
R ichard blickte argwöhnisch gen Westen. Der Himmel dort war eine einzige dunkle Gewitterfront. Mittlerweile konnte es keinen Zweifel mehr geben. Krausnick würde recht behalten. Ein weiteres Unwetter war im Anmarsch und würde binnen der nächsten Stunden mit aller Heftigkeit über sie hereinbrechen.
Die Luft war verdächtig ruhig. Eine geradezu bedrohliche Stille lag über der Schlucht. Bis auf das entfernte Rauschen des Flusses war nicht das geringste Geräusch zu hören. Kein Vogel, kein Säugetier, kein Insekt. Es war, als habe sich alles vor dem nahenden Sturm in Sicherheit gebracht. Selbst die Gorillas waren verschwunden. Als die letzten Nachzügler über die Brücke gekommen waren, war die ganze Gruppe in Richtung der Pyramide abgerückt. Parkers Zählung endete bei vierhundertneunundsechzig. Eine Zahl, die den Biologen Rätsel aufgab. So schön das auf dem Papier auch aussah, es waren einfach zu wenig. Entweder war es doch zu Zwischenfällen mit der einheimischen Bevölkerung gekommen oder – und das war wahrscheinlicher – es hatten nicht alle Gorillas den Weg hierherauf gefunden. Der Ruwenzori war ein verschlungener Irrgarten von Tälern und Höhenzügen. Man musste schon über einen ausgeprägten Ortssinn verfügen, um das Tal der Bugonde zu finden, geschweige denn die Brücke. Vermutlich waren einige Familien schlichtweg falsch abgebogen und irrten jetzt in irgendwelchen Seitentälern herum. Agnes war optimistisch, dass die fehlenden Gorillas über kurz oder lang irgendwo auftauchen würden.
Was den Forschern indes Sorge bereitete, war das zunehmend schlechte Wetter. Zelte würden bei dem heraufziehenden Sturm nichts nützen, und was einen natürlichen Unterschlupf betraf, so sah es eher mau aus. Keine Höhle, kein Unterstand – über Kilometer hinweg. »Seht euch diese aufgewühlten Wolken an.« Wilcox beschirmte seine Augen mit der Hand. »Die Basis hat eine merkliche Grünfärbung, seht ihr das? Ein Zeichen dafür, dass wir es mit massiven Aufwinden zu tun haben. Ich fürchte, diesmal wird es noch heftiger als beim letzten Mal.«
»Wir hätten doch die schweren Zelte nehmen sollen«, sagte Agnes. »Aber dann wären wir viel langsamer gewesen …«
»Ich glaube nicht, dass es irgendein Zelt gibt, das diesem Sturm trotzen könnte«, sagte Richard. »Selbst die Armeezelte hätte es um ein Haar niedergemacht. Ich schlage vor, wir machen es wie die Gorillas. Wir brechen in den Wald auf. Die Bäume werden uns vor dem Wind schützen. Etwas anderes wird uns kaum übrigbleiben.«
Parker lächelte. »Dann holt mal eure Jacken und Kapuzen raus. Auch wenn mir jetzt ein dichtes Fell lieber
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