Korona
Glück erspart geblieben war.
»Ich schon«, sagte der Offizier. »Ich war ’ 94 bei einem Hilfskonvoi der Blauhelmtruppen in Ruanda. Kurz nach dem Genozid. Wir waren im Süden des Landes in der Gikongoro-Region. Wir hoben Massengräber aus und versorgten die Bevölkerung mit Medikamenten. Wir halfen, wo wir konnten, doch wir konnten nicht verhindern, dass die Krokodile Geschmack an Menschenfleisch fanden. Die Flüsse quollen über vor Leichen. Als keine mehr da waren, begannen sie, lebende Personen anzufallen. Fischer, Hirten, Kinder. Alle, die zu nah ans Wasser kamen.«
»Wie entsetzlich.«
Katumba nickte. »Wissen Sie, wie ein Krokodil jagt? Es packt sein Opfer und zieht es auf den Grund. Es verbeißt sich in den Körper und zerrt und schüttelt so lange, bis das Opfer entweder ertrunken oder verblutet ist. Was dann übrig bleibt, sieht so ähnlich aus wie das hier. Der Arm dieser Frau wurde ausgerissen.« Der Offizier stand langsam wieder auf.
»Von einem Krokodil?«
»Kann ich nicht sagen«, erwiderte Katumba.
»Noch
nicht. Aber ich werde es herausfinden, versprochen. Kommen Sie, lassen Sie uns weitergehen.«
Schweigend ging die Gruppe weiter.
Immer mehr Leichen tauchten auf, hauptsächlich Frauen. Zerrissen, zerfetzt, verbrannt und verblutet. Besonders schlimm war es, wenn Kinder betroffen waren. Mädchen in wunderschönen farbigen Kostümen, die Haare mit Kopftüchern umwickelt. Hals und Ohren mit prächtigen Ringen oder Ketten geschmückt. In ihren weit aufgerissenen Augen flackerte blankes Entsetzen. Es war ein Anblick, den Richard nie vergessen würde. Dabei blieb ihnen der schlimmste Anblick noch erspart. Das Stadtzentrum – dort, wo die schönsten und prächtigsten Gebäude standen – war unbegehbar. Hier wütete das Feuer am heftigsten. Die Flammen nagten an den Holzkonstruktionen, die die Plattformen in der Schwebe hielten. Manche der meterdicken Holzbalken waren nur noch verkohlte Stümpfe, die das Gewicht nicht mehr lange tragen würden. Schon jetzt begannen Teile der Stadt abzurutschen und in tiefer gelegene Bereiche zu stürzen.
Richard, dem die Augen vor Qualm und Trauer tränten, zog ein vernichtendes Fazit: Die Stadt war nur noch ein Scheiterhaufen.
»Mein Gott.« Er setzte seine Brille ab und strich über seine Augen. »Wie konnte das nur geschehen?«
»Es gibt keinerlei Anzeichen für einen bewaffneten Angriff«, sagte Katumba. »Keine Granateinschläge, kein Schrapnell, keine Kugeln. Das Feuer hat sich ohne Fremdeinwirkung ausgebreitet. Vielleicht als Folge einer Panik. Alle Leichen zeigen Anzeichen größter Furcht.« Er blickte sich ratlos um. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich stehe vor einem Rätsel.«
»Wenn wir wenigstens Überlebende fänden«, sagte Wilcox.
»Da ist niemand lebend rausgekommen«, sagte Katumba. »Sehen Sie sich diese Flammenhölle doch nur an.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Wir müssen zurück, ehe das Feuer den äußeren Treppenaufgang erreicht und uns den Rückzug abschneidet. Kommen Sie, beeilen Sie sich.«
Hustend und keuchend quälten sich die Männer zurück durch das Tor und dann weiter den Berg hinauf, eingehüllt von Hitze und Rauch. Meter um Meter, Stufe um Stufe kletterten sie in Richtung des Felsvorsprungs, auf dem der Hubschrauber wartete. Funken stoben zu ihnen empor. Heiße Asche rieselte auf sie nieder und brannte kleine Löcher in Hemden und Hosen. Das Knacken und Bersten der Holzbalken war ohrenbetäubend.
Sie waren noch nicht oben angelangt, als Richard etwas hörte. Über das Brodeln und Brennen hinweg ertönte ein langgezogener Klagelaut. Er blieb stehen, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht irrte. Feuer hatte manchmal die Eigenschaft, sehr menschliche Laute auszustoßen.
»Warten Sie!«, rief er. »Ich glaube, ich habe etwas gehört. Hören Sie? Da ist es wieder.«
»Es kommt von hier drüben«, rief Katumba. Er deutete auf die Palisade. Die Holzpfeiler entlang der Palisade waren so weit niedergebrannt, dass man die dahinter liegenden Gebäude sehen konnte. Katumba gab seinen Männern Befehl, die Balken mit ihren Stiefeln einzutreten. Dann schüttete er Wasser aus seiner Feldflasche über den Kopf, hielt ein feuchtes Tuch vors Gesicht und trat gegen das verkohlte Holz. Schon bald hatten er und seine Männer einen etwa zwei Meter breiten Durchgang freigelegt, dessen ausgezackte Ränder wie verfaulte Zähne in die Luft ragten. In Gefolgschaft seiner beiden Sanitäter sprang er durch die Öffnung und
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