Korrupt (German Edition)
Block und einen Stift, den ein Kollege vergessen hatte. Sie schrieb auf, was sie wusste und was sie nicht wusste. Dann versuchte sie Zusammenhänge herzustellen. Das war ihre Art, schwierige Situationen in den Griff zu bekommen.
Ein Mann ruft im Büro an. Er hat ihren Artikel gelesen und sie wiedererkannt. Er weiß, wer ihre Mutter ist. Entweder sagt er die Wahrheit und kannte ihre Mutter, oder er hat gut recherchiert. Warum ruft er jetzt an? Warum hat er nicht schon früher angerufen? Er will ihr Foto in der Zeitung gesehen und sie erkannt haben. Ihre Frage: Ich schreibe schon seit Jahren für diese Zeitung. Warum erst jetzt? Seine Antwort lautet, seine in Solna wohnhafte Tochter hat ihn besucht und die Zeitung mitgebracht. Er liest sie sonst nicht, aber seine Tochter kauft sie jeden Tag. Ein unglaublicher Zufall, sagt er. Wenn seine erste Behauptung eine Lüge ist, dann ist vermutlich auch alles andere eine Lüge. Das mit ihrer Mutter. Und ihrem Vater.
Sie verband die Stichworte Sture Hult, mein Artikel und Mama mit Linien. Bis auf weiteres will ich davon ausgehen, dass er die Wahrheit sagt, dachte sie. Was dann? Er sagt, dass er in Flen wohnt und dass auch Mama dort gewohnt hat. Er hat sie mit einem kleinen Kind getroffen, mit mir. Es gibt einen Vater, und Sture Hult behauptet, dass er weiß, wer er ist, dass er und Mama ihre Beziehung aber geheim hielten. Der Vater hat die Vaterschaft auch nie anerkannt. Das kann nur zwei Dinge bedeuten: Mama wusste nicht, wer er war, oder sie wollte oder konnte nicht sagen, wer er war. Wenn Sture Hult wusste, wer mein Vater war, muss Mama es auch gewusst haben. Zwei weitere Möglichkeiten, warum sie es nicht sagen konnte oder wollte: Sie schämte sich, oder der Mann wollte es nicht. Annie malte um die zweite Hypothese einen Kreis. Der Mann, der ihr Vater war, wollte also nicht, dass jemand von seinem Kind erfuhr. Warum nicht? Dafür gab es eine Reihe von Erklärungen. Ihre Mutter war seine Geliebte gewesen, und er hatte bereits eine Familie, die er nicht verlassen wollte. Er bekleidete eine Position, in der ihm ein uneheliches Kind geschadet hätte. Vielleicht war er Gemeindepfarrer. Den Gemeindepfarrer strich sie durch und schrieb «Familie» und «Position» darunter und kreiste die Wörter ein. Der Mann, der ihr Vater war, wollte nicht, dass ihre Mutter seinen Namen preisgab, entweder, weil er bereits eine Familie hatte, oder, weil es unpassend gewesen wäre, mit einer Frau wie ihrer Mutter ein Kind zu haben. Nicht einmal nach ihrem Tod gab er sich zu erkennen, um sich seiner Tochter anzunehmen.
Annie bereute, das Gespräch mit Sture Hult so rasch beendet zu haben. «Es ist nicht so einfach», hatte er gesagt. «Ich zeigen Ihnen alles, was ich habe, dann können Sie sich selbst ein Bild machen.» Er hatte ihr keine Telefonnummer nennen können, unter der er erreichbar gewesen wäre. Aber er würde sie gerne sehen, am nächsten Tag bereits, falls ihr das recht sei. Er beabsichtige, seine Tochter in Stockholm eine Woche lang zu besuchen. Annie, die immer noch recht benommen war, hatte eingewilligt. Dann hatten sie aufgelegt. Ihr journalistischer Scharfsinn war wie weggeblasen gewesen.
Annie fuhr mit dem Finger über das Papier. Ein Mann im Leben ihrer Mutter war in den Unterlagen nicht vorgekommen. Niemand hatte ihn erwähnt. Annie war immer davon ausgegangen, ihr Vater sei eine Zufallsbekanntschaft ihrer Mutter gewesen, sie sei unabsichtlich schwanger geworden und ein gemeinsames Leben sei nie geplant gewesen. Möglicherweise hatte ihr Vater nichts von ihrer Existenz gewusst. Sie hatte jedenfalls damals, als sie in ihrer Jugend versucht hatte, etwas über ihre Herkunft in Erfahrung zu bringen, nichts herausfinden können. Es war, als hätte es diesen Mann nie gegeben. Er war und blieb verschwunden. Das bedeutete, dass er die Fähigkeit besaß, zu verhindern, dass man nach ihm suchte, obwohl es gute Gründe dafür gab.
Jetzt meldete sich die Journalistin in ihr zu Wort, und das Kind in ihr wischte sich seine Tränen aus dem Gesicht. Es gab ein Datum. Sture Hult hatte ein Datum genannt, und sie hatte es aufgeschrieben. Samstag, den 17 . Oktober 1959 . Vor fast genau dreißig Jahren war Annies Mutter ermordet worden. Laut Sture Hult in einem Haus, das später angezündet worden war, um Spuren zu vernichten. Dann hatte man die Leiche an den Ort gebracht, wo sie gefunden worden war. Dieser Ort war weit genug von dem Haus entfernt gewesen, das abgebrannt war, damit niemand auf
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