Korsar meiner Träume
dass Männer in der Nähe waren und die Luke sich jederzeit öffnen konnte, zog Claire zuerst das Hemd an, dann hängte sie die Kleider auf, die sie angehabt hatte. Bald schon hingen tropfende Kleidungsstücke über jedem Stuhl in Nates Kajüte, und Claire fühlte sich seltsam.
Nates Kleidung zu tragen war ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite fühlte sie sich deshalb viel zu angreifbar. Ihr war gar nicht richtig bewusst gewesen, wie viel sie hinter ihrer Kleidung versteckte – nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Identität – bis sie auf ihre entblößten Beine und ihre nackten Füße hinabschaute. Obwohl ihr das Hemd bis über die Knie reichte, fühlte sie sich nackt und wehrlos, trotz der Waffen, die leicht erreichbar auf dem Tisch lagen.
Die andere Schneide des imaginären Schwertes war gleichfalls gefährlich, denn sie erinnerte Claire an das, was in ihrem Leben fehlte. Sie zog den Hemdkragen bis zu ihrer Nase hoch und atmete den sauberen Geruch ein. Das Hemd stank nicht nach Schmutz oder Rauch, war weder zerrissen noch zerschlissen. Es war nicht wieder und wieder geflickt worden, denn er konnte es sich leisten, seine Hemden zu ersetzen.
Seufzend setzte sie sich auf die Koje. Sie wünschte, alles wäre schon vorbei. Sie wollte bloß den Schatz finden und dann ihr Leben fortführen. Sie war es leid, aus der Tasche zu leben und nach Essen zu suchen. Sie hasste es, bis nachts zu warten, um baden zu können, wagte es aber auch nicht am helllichten Tage, jedenfalls nicht an den Orten, wo sie gewesen war.
Sie war es leid, auf hartem Untergrund zu schlafen und drückte dabei ihre Hand in die weiche Matratze unter sich. Und wenn sie sich selbst gegenüber wirklich aufrichtig war, dann war sie es auch unendlich leid, alleine zu sein. Sie ließ sich nach hinten fallen und starrte an die Holzdecke. Die Kerzen warfen Schatten, die fröhlich über die Balken tanzten. Schatten, dachte Claire mit schwerem Herzen. Es schien, als ob sie die Einzigen wären, die ihr an den meisten Tagen Gesellschaft leisteten. Die Schatten des Mädchens, das sie früher einmal gewesen war, die Schatten ihrer Vergangenheit, und die Schatten eines Schatzes, der schwer zu fassen war.
Hör auf damit , schalt sie sich selbst. Es gelang ihr nicht immer, das Gefühl des Bedauerns zu ignorieren, das sie verfolgte, aber heute Abend schob sie es entschieden beiseite. Erwachsen zu werden hatte sie gelehrt, dass es nichts änderte, einer Sache nachzutrauern. Es änderte weder die Vergangenheit noch ihre momentane Situation. Sie musste sich auf ihre Zukunft konzentrieren. Darauf, diese so zu gestalten, wie sie es wollte. Und aus diesem Grund brauchte sie auch den Schatz.
Sie erreichten die Isla de Hueso bei Sonnenuntergang des nächsten Tages, und das Einzige, was sie bedrohte, waren aufgetürmte schwarze Wolken und der bevorstehende Regen.
Obwohl das Wetter sich genügend gebessert hatte, dass sie mit vollen Segeln fahren konnten, war es doch immer schlechter geworden, je näher sie der Isla de Hueso gekommen waren. Es war beinahe so, als ob die Insel ihrer Veranlagung treu blieb, niemanden willkommen zu heißen, der ihren Boden ausplündern wollte. Der Wind, der bereits die ganze Nacht lang getobt hatte, setzte seinen Angriff abermals fort. Das Langboot ans Ufer zu rudern, war eine Aufgabe, die jedermann an Bord an seine Grenzen trieb.
Die Wellen schlugen über den Seitenwänden des Bootes zusammen und durchnässten alle Passagiere. Die Männer an den Riemen ächzten bei jedem Ruderschlag. Claire erkannte an den angestrengten Gesichtern, dass sie so hart arbeiteten, wie sie es nur konnten. Sie wusste aber auch, dass Nate es nicht riskiert hätte, in solchen Gewässern mit einem Langboot zu rudern, wenn ihnen dieses andere Schiff nicht so lange gefolgt wäre. Aber es ergab Sinn, die Verfolger abzuschütteln, solange der Himmel noch so wütend tobte und es in Strömen goss, sodass ihre Überfahrt aus der Ferne verborgen blieb.
Sie und Vincent waren damit beschäftigt, das Boot auszuschöpfen, was ein ziemlich nutzloses Unterfangen gewesen wäre, wenn sie weiter draußen auf See gewesen wären, denn die Wassermenge, die hineinströmte, war viel größer als das, was sie beide wieder herausschöpfen konnten.
Über ihren Köpfen war der Himmel kalt und grau, und die Luft war auch nicht wärmer. Nass und durchgefroren sprang Claire mit den anderen ans Ufer. Zähneklappernd half sie die Vorräte auszuladen, die Kisten mit Essen
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