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Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Fraser
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seiner silbernen Rüstung hindurch ein Loch in mein Herz gebohrt hatten.
    Und was hat rosa an Maurice anziehend gefunden?, fragte ich mich. Als junge Frau hatte sie den Zweiten Weltkrieg miterlebt - das war eine andere Welt gewesen, eine andere Zeit. Aber genau wie ich hatte sie ihren zukünftigen Ehemann in Paris kennengelernt. Sie war an der Gare de l'Est in den Zug um achtzehn Uhr sechs eingestiegen, um heimzufahren in das Städtchen Gretz, das ebenfalls südöstlich von Paris liegt. Rosa war müde, denn sie hatte im Hôpital Lariboisière eine Doppelschicht hinter sich gebracht. Als Maurice einstieg und sich neben sie setzte, hatte er ihr mit einem Lächeln »Bonsoir« gewünscht. Aber das war auch alles. In jenen Tagen waren die Männer höflicher als heute. Während der restlichen Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Nicht, dass Maurice nicht darüber nachgedacht hätte, gestand er ihr später - dieser zierlichen jungen Frau mit den großen braunen Augen, die sein Lächeln erwidert hatte.
    Beim Aussteigen merkte sie noch nicht, dass sie ihre Einkaufstasche oben auf der Gepäckablage vergessen hatte. Erst als sie bei ihrem Fahrrad angelangt war, das am Bahnhof stand, fiel es ihr auf. In Frankreich herrschten damals nach dem Krieg schwere Zeiten, die Bevölkerung litt unter Entbehrungen. Folglich schimpfte die junge Rosa wegen ihrer eigenen Dummheit laut mit sich selbst und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Erst der Anblick von Maurice, der nur ein paar Meter entfernt verlegen mit ihrer Einkaufstasche stand, verschlug ihr die Sprache.
    Jahre später lachten die beiden über diese seltsame erste Begegnung. Maurice hatte ihr nämlich einfach die Tasche überreicht, die Mütze gezogen und war dann zu Fuß nach Hause gegangen - eine weite Strecke, denn er war eine Station zu früh ausgestiegen. Und Rosa hatte sich nicht einmal für seine Mühe bedankt. Jedenfalls nicht sofort, sondern erst am nächsten Abend, als er in denselben Zug stieg, in genau denselben Wagen, und sich wieder auf denselben Platz setzte ... genau wie sie.
    Erst viele, viele Besuche später fiel mir auf, dass Maurice plötzlich alt wirkte, er schien über Nacht gealtert zu sein. Er war krank, aber damals wussten wir das noch nicht. Rosa erzählt die Geschichte immer und immer wieder. Er war damals erst neunundfünfzig, hatte nur noch ein Jahr zu arbeiten bis zur Rente. Er fühlte sich müde, unendlich müde, wollte jedoch nicht zum Arzt gehen. »Er hat Ärzte immer gehasst«, erklärte sie. Eines Tages konnte er einfach nicht mehr aus dem Bett aufstehen.
    Er starb, kurz nachdem Marc und ich nach Australien abgereist waren.
    Ich überlegte oft, ob Marc mir in irgendeiner Weise die Schuld daran gab ... ob er glaubte, wenn er in der Nähe geblieben wäre, hätte er etwas tun können, hätte er den Tod seines Vaters verhindern können.
    Aber andererseits - war es nicht einfach Schicksal? Ob Marc sich nun in Australien oder in Frankreich aufhielt, spielte letztlich keine Rolle. Sein Vater lag im Sterben. Leukämie, hieß es. »Hätten wir ihn doch nur dazu gekriegt, eher zum Arzt zu gehen«, hatte Rosa geklagt. Aber hätte das geholfen?, fragte ich mich.
    Maurice starb.
 
    »Wie geht's ihm denn, Marc?«
    Die Frage war blödsinnig, ihre Einfachheit und ihre Implikationen waren grotesk. Aber ich wusste nicht, wie ich sie anders formulieren sollte, denn ich wollte behutsam vorgehen. Doch in meiner Panik hatte ich Boxhandschuhe angezogen. Es war der Gedanke an Marcs Vater, an diesen Mann, der ihm so viel bedeutet hatte, dessen Tod eine große Wunde in seinem Herzen hinterlassen und eine breite Kluft zwischen uns aufgerissen hatte ...
    Er lebte noch.
    Wir hatten das Panis verlassen und den Quai de Montebello überquert, um an der Station Saint Michel die Metro zu nehmen und zurück zur Arbeit zu fahren. Als wir die Treppe erreichten, die in das unterirdische Tunnellabyrinth führte, schob ich meine Hand in seine und zog ihn zur Seite, während die mittäglichen Pendler wie wild gewordene Ameisen hinter uns drängelten. Er hatte meine Frage noch nicht beantwortet.
    »Marc?«
    Nichts, nur ein Seufzer, als entwiche Luft zischend aus einem Schnellkochtopf.
    Wir standen an der Mauer am Seineufer. Unter uns Wand sich die blaugraue Schlange. Jenseits davon, auf der Ile de la Cité, erhob sich im unheimlichen Licht dieses stürmischen Dienstags Notre-Dame. Die Kathedrale wirkte wie die weißen Märchenschlösser auf den Bildern, die ich als Kind eingehend

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