Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
nicht. Der Bahnhof wurde schon vor langer Zeit stillgelegt. Dafür gibt es zwei Friedhöfe - das sagt alles.
»Hier bist du also aufgewachsen?«, neckte ich Marc, als er mich zum ersten Mal aufs Land mitgenommen hatte. Ich spielte die Großstädterin nur zu gut. »Wo findet denn das Nachtleben statt?«
»Tu verras.« Er lächelte.
Am Abend nahm Marc mich mit an den Fluss. Die Sonne ging gerade unter, und wir legten uns in das hohe Gras am Ufer, sodass die Fischer auf der alten Holzbrücke, die etwa zweihundert Meter weiter den Fluss überspannte, uns nicht sehen konnten.
Und da erlebte ich Ozouers Nachtleben.
»Der Himmel«, sagte Marc anschließend, als wir auf dem Rücken im feuchten Gras lagen und nach oben schauten, fröstelnd, aber zufrieden. »Siehst du's jetzt? das ist das Nachtleben in Ozouer.«
Er hatte recht. das Schönste an ozouer ist der Himmel. Egal, wo man gerade ist, wenn man über das weite, flache Land schaut, wölbt der Himmel sich darüber wie eine riesige Kuppel, ein Paradies für Astronomen.
Auf dem Heimweg kamen wir im Dunkeln an einem der beiden Friedhöfe vorbei. Nur das Licht des Vollmonds wies uns den Weg. Marc drückte mir die Hand. »Mes grands-parents et mes arrière-grands-parents liegen da. Möchtest du sie kennenlernen?«
»Nein!« Kichernd riss ich mich los, fing an zu rennen und schrie, als Marc hinter mir herlief.
»Tu en es sûre, Annie? Du willst sie wirklich nicht kennenlernen? Ich bin sicher, dass sie dich sehr gern kennenlernen würden!«
Marcs Eltern lebten mitten im Dorf in einem alten Bauernhaus, das sein Ururgroßvater Ende des achtzehnten Jahrhunderts gebaut hatte. Wenn wir Jahre später von Australien nach Frankreich gereist waren, verschwand Charlie dort stets stundenlang auf dem Dachboden. Er durchwühlte die uralten Koffer, die verstaubten Kartons mit altem Holzspielzeug und die Stapel von Comic-Heften, zwischen deren zerfallenden, vergilbten Seiten Spinnennetze klebten - eine Schatzkiste für ein Kind.
Ich erinnere mich an unser erstes gemeinsames Wochenende in Marcs Elternhaus, wie ich in seinem ehemaligen Kinderzimmer aufwachte und die Sonne durch die Glastüren flutete, die in den Garten führten. Bevor Marc erwachte, schlich ich im Zimmer umher. Ich erkundete die Bücher auf den Regalen, die noch aus seiner Kindheit stammten, sowie seine Sammlung von Modellautos und Kampfflugzeugen und betrachtete seine Plastiksoldaten, die in verblichenen Schokoladenkartons der Firma Poulain lagen; einen Stapel Zeichnungen von einem kleinen Jungen - Autos und Pferde und Soldaten, die sich mit Gewehren und Kanonen grausige Schlachten lieferten; und spätere Zeichnungen, offenbar aus Marcs turbulenter Teenagerzeit - Bilder von jungen Frauen mit riesigen Brüsten, die wie prall gefüllte Ballons von den Seiten aufstiegen, als wollten sie gleich platzen.
Später an diesem Vormittag waren wir mit Maurice zur boulangerie hinunterspaziert, nur etwa hundert Meter die Straße entlang, gleich gegenüber von der Dorfkirche, deren Glocken laut zur Sonntagsmesse riefen.
Maurice war ein schweigsamer Mann, so wie Marc, nehme ich an. Mir hatte er jedenfalls nicht viel zu sagen. Schließlich war ich ein fremdartiges Wesen aus einem fernen Land, das um seinen Sohn warb und ihn schließlich auf die andere Hälfte der Erdkugel locken würde. Maurice beobachtete uns kopfschüttelnd.
Aber Rosa, eine zierliche Frau mit dunklen Augen und grauem Haar, das einmal so schwarz gewesen war wie das ihres Sohnes, setzte sich mit mir in den Garten und erzählte mir Geschichten über Marc und die Welt, in der er aufgewachsen war. Sie brachte stapelweise staubige Alben heraus und zeigte mir Schwarzweißfotos, gestellte Aufnahmen von Marcs Vorfahren, von seiner Urgroßmutter Morvan, die aufrecht und stattlich in einem langen schwarzen Kleid vor der Kamera stand. Ihre Züge waren so starr wie ihr Stahlkorsett. Offenbar war jemand gestorben.
Marc und seinen Vater zusammen zu beobachten war interessant. In stillem Einvernehmen schlenderten sie nebeneinander durch den Garten und kommunizierten wortlos. Zwischen ihnen herrschte ein zwangloses Schweigen, wie ich es zwischen mir und meiner Mutter nie erfahren hatte. Maurice war kleiner und stämmiger als sein Sohn, aber in ihren Gesichtern sah man die Ähnlichkeit. Sie besaßen die gleichen klaren, ebenmäßigen Züge, diese Strenge, die ich an Marc sofort so anziehend gefunden hatte. Er war der schöne dunkle Ritter, dessen blaue Augen durch das Visier
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