Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
bittersüß die Lust.
Wir bereiten in seiner Küche unsere erste gemeinsame Mahlzeit zu. Schmachtend singt Bryan Ferry im Hintergrund für uns - Avalon, die alte Platte, die ich damals dauernd aufgelegt hatte. »Pas encore, Annie, nicht schon wieder!« Aber heute Abend scheint Marc nichts dagegen zu haben. Ich bin ganz ausgewaschen, meine Gesichtshaut spannt, ich bin sauber geschrubbt, und aus meinem Haar tropft Wasser auf mein T-Shirt. Aber ich bin zum ersten Mal seit langem entspannt - eine Ewigkeit scheint es her zu sein, dabei war es bloß eine Woche.
»Es ist so komisch, dass wir hier allein sind. Kommt mir vor, als wäre Charlie nur im Ferienlager.«
»Oui.« Marc trinkt einen Schluck Bier und schaut zu mir herüber. Ein listiges Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Wir sollten die Zeit kreativ nutzen.«
Ich erwidere sein Lächeln. Das war unsere Formulierung, unser kleiner Scherz, wenn Charlie als Baby sein Nachmittagsschläfchen hielt. Ich stelle den Herd aus. Das Essen kann warten.
Wir liegen zusammen im Bett, ineinander verschlungen, zufrieden. Unsere Kleidungsstücke sind über Bett und Fußboden verstreut, und wir lächeln stumm zur Decke hinauf. Es war schön, denke ich, so wie früher.
»Dix sur dix.« Marc tut so, als hielte er eine Karte hoch - zehn von zehn möglichen Punkten.
»Nee, eher neun«, sage ich. In gespieltem Entsetzen wendet er sich mir zu. »Aber wenn du Vollkommenheit anstrebst, bin ich bereit, es noch mal zu versuchen.«
Marc lacht, dann schaut er wieder zur Decke hinauf. Er denkt über etwas nach - über jemanden vielleicht? Ob sie wohl perfekt gewesen ist?
»Denkst du manchmal, Annie ...« Er hält inne. »Denkst du, dass das hier, von Charlie mal abgesehen, unsere Chance sein könnte, etwas zu verändern, unsere Chance, es diesmal richtig zu machen?«
»Es richtig zu machen?«
»Tu sais ce que je veux dire.« Du weißt schon, was ich meine.
Ich überlege. Ja, ich glaube wohl - irgendwo auf dem Weg hatten wir uns voneinander entfernt.
»Ja, vielleicht.« Aber plötzlich frage ich mich, was genau Marc eigentlich ändern, was er richtig machen will. »Du meinst, dass wir nach Lherm gezogen sind?«, taste ich mich vor.
»Non, vorher.«
Ich bekomme Herzklopfen. »Wann vorher?« Doch ich fürchte, ich kenne die Antwort schon, auch wenn ich nicht weiß, was in jener Zeit eigentlich passiert ist.
»Je n' sais pas«, erwidert Marc ausweichend und zuckt die Achseln. »Ich meine keinen bestimmten Zeitpunkt.«
Aber ich bin mir sicher, dass es sich um einen ganz bestimmten Zeitraum handelt - dass damals, als sein Vater starb, etwas geschehen ist.
»Viens.« Er beugt sich über mich, sein Mund liebkost meinen Hals, liegt auf meinen Lippen, er küsst mich so zärtlich, dass mir die Tränen kommen. »Lass uns Essen machen.« Marcs Gesicht schwebt über meinem. Und da entdecke ich es in seinen Augen - etwas, was ich so lange nicht mehr gesehen habe.
29
E s ist spät. Aber ich will noch nicht ins Bett. Ich muss raus, muss kalte Luft im Gesicht spüren und in großen Zügen einatmen, muss die Gedanken vertreiben, die meine Ruhe bedrohen: dass wir bald zusammen schlafen gehen werden ohne Charlie im Nebenzimmer. Also lassen wir die schmutzigen Teller und die Gläser mit den Rotweinresten auf dem Tisch stehen und treten auf die Rue Championnet hinaus. Wir gehen auf den großen Platz zu.
Am Boulevard wimmelt es von Restaurants, und es riecht nach Couscous und würzigem Lammfleisch. Auf dem Bürgersteig stehen Grüppchen von Männern mit makellosen Fes. Sie unterhalten sich laut, mit hohen, scharfen Stimmen, als stritten sie sich. Aber sie nicken und lächeln, als wir vorbeigehen.
Ich erinnere mich, wie wir früher jeden Sonntagvormittag hier entlangspaziert sind, wenn die ganze Straße voller Marktstände war - Obst und Gemüse, gelbes und orangerotes Gewürzpulver, hoch aufgehäuft in Körben, goldene Brathähnchen, die sich auf Spießen in gläsernen Öfen drehten, Halwa und süßes, klebriges Gebäck, triefend vor Honig und mit zerdrückten grünen Pistazien und gerösteten Mandeln bestreut - alle Farben und Gerüche aus Marokko, der Türkei und Algerien waren in dieser Straße versammelt.
Jetzt erzählt Marc mir von seinem Vater. Dass er morgen zu seinen Eltern fahren will, genau wie früher, als wir sie zusammen besucht haben, sonntags zum Mittagessen. Er möchte nicht, dass ich mitkomme. Sie haben mich noch nicht kennengelernt, in dieser Variante unserer
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