KR159 - Ich kannte den Mörder
mir ein bißchen zu neugierig. Zur richtigen Stunde werden Sie alles erfahren. Jetzt kann ich Ihnen noch gar nichts sagen. Aber Sie könnten mir ein bißchen bei meiner Arbeit helfen. Wie wär’s damit?«
Doktor Werking rückte seine randlose Brille zurecht.
»Sicher«, sagte er verlegen, »wenn ich es kann. Ich bin allerdings in kriminalistischen Dingen nicht geschult.«
»Das ist nicht notwendig. Sie brauchen mir nur ein paar Fragen zu beantworten.«
»Wenn ich es kann, gern!«
»Kennen Sie Mr. Davis Stay?«
»Das Original unter den Gästen?«
»Jawohl, den Mann meine ich.«
»Ein bißchen kenne ich ihn schon. Wissen Sie, Mr. Morris hat hier oft solche Gesellschaften wie heute. Er will dann immer ganz ungestört sein. Deshalb wird jedesmal für die Dauer dieses Aufenthaltes alle Verbindung mit dem Festland abgebrochen. Es könnte aber doch einmal etwas passieren, deswegen muß ich immer anwesend sein. Auf diese Weise habe ich Mr. Stay kennengelernt.«
»Er war also früher schon hier auf der Insel?«
»O ja! Mr. Stay ist sicher schon zehn-, zwölfmal hier gewesen. Mr. Morris hat einen Narren an dem verrückten Kerl gefressen und versäumt nie, ihn miteinzuladen, wenn andere Gäste erwartet werden. Jetzt ist ja Mr. Stay schon etwas vernünftiger geworden, aber früher — du meine Güte, das hätten Sie miterleben müssen!«
»Was war früher?« fragte ich gespannt.
»Na, Mr. Stay hat doch einen kleinen Spleen. Seit Jahren beschäftigt er sich nur noch damit, in den Zeitungen aller Welt Heiratsinserate aufzugeben. Da er ein reicher Mann ist, erhält er natürlich eine ungeheure Menge von Zuschriften. Früher las er uns ununterbrochen die Briefe der ehelustigen Mädchen und Frauen vor. Bei jedem neuen Brief ist er immer überzeugt, endlich die Richtige gefunden zu haben. Wenn er aber den Brief dann zum zweiten Male liest, entdeckt er schon die ersten Nachteile und schwört auf den nächsten Brief. Früher wurde er mit diesem Spleen allen Gästen lästig. Bis ihm Mr. Morris einmal deutlich sagte, er solle seine Privatangelegenheiten für sich behalten, seither hat man etwas Ruhe vor seinen Briefen.«
»Alles in allem ist er also ein bißchen vertrottelt?«
Doktor Werking schmunzelte:
»Man kann es so nennen!«
»Aber er wäre sicher nicht imstande, irgend jemandem weh zu tun oder gar jemand zu ermorden, nicht?«
Der Arzt schüttelte entschieden den Kopf:
»Ganz ausgeschlossen! Er kann ja nicht einmal eine Spinne tottreten, die sich in sein Zimmer verirrt hat. Er muß dann jedesmal die Dienerschaft um Hilfe rufen.«
»Seit wieviel Jahren hat Mr. Morris eigentlich schon diese Insel gemietet, wissen Sie das?«
»Gemietet?« Der Doktor sah mich stirnrunzelnd an. »Wie kommen Sie denn darauf? Mister Morris hat die Insel von einem gelähmten Industriellen gekauft, das war — warten Sie — ja, es war im Herbst 1956. Der gelähmte Mann hatte sich mit seiner Familie überworfen und machte beim Kauf der Insel nur die eine Bedingung, daß er seine kleine Wohnung oben auf dem Dachboden behalten dürfe und daß man ihn mit dem Notwendigsten versorge. Mr. Morris sicherte das zu und hat es nicht zu bereuen brauchen. Der Gelähmte ist nie auffällig in Erscheinung getreten. Ja, manchmal merkt man monatelang überhaupt nicht, daß er da ist. Die Diener bringen ihm sein Essen hinauf, alles andere kann er selbst tun, da ja nur die Beine gelähmt sind.«
»Diese Lähmung ist aber sicher festgestellt?«
»Was meinen Sie damit?«
»Haben Sie ihn einmal untersucht?«
»Nein. Ich bot es ihm einmal an, aber er lehnte es dankend ab. Was konnte ich da machen?«
»Nichts, natürlich«, erwiderte ich. »Na, besten Dank für die Auskünfte.«
»Ich hoffe, daß es für Sie von Nutzen war«, meinte Doktor Werking mit einem forschenden Seitenblick.
»O ja«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Langsam fügt sich mein Mosaik zusammen. Ich denke, daß ich den Gästen morgen früh eine kleine interessante Geschichte erzählen kann. Gute Nacht, Doktor!«
»Gute Nacht, Mister Cotton!«
***
Ich ging wieder hinauf in unser Zimmer. Auf der Treppe traf ich den englischen Diener George, der mit Phil die Leiche des Ermordeten wegtrug.
»Wir werden ihn einstweilen auf dem Boden aufbahren, bis Mr. Morris etwas anderes anordnet«, sagte der Diener.
»Machen Sie das nur, wie Sie das für richtig halten«, erwiderte ich und fügte zu Phil gewandt, hinzu: »Ich warte in unserem Zimmer auf dich.«
»Okay.«
»Ich wäre Ihnen
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