Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
würde bluten und nicht er.
St. Thomas, 30. Juni 1975
Die Ferien stehen kurz bevor. Ich bin froh. Jens sieht mich nicht mehr an. Pater Ignatius dagegen lässt mich nicht aus den Augen.
Ich löse mich auf. Eigentlich bin ich schon lange nicht mehr da. Deswegen bin ich auch nicht wütend oder enttäuscht oder traurig. Vielleicht bin ich längst tot.
Meine Ferien in Berlin sind gestrichen. Keine Strafe; nur eine Verkettung dummer Umstände. Tante Sybille ist krank – und meine Mutter ist zu ihr gefahren, um sie zu pflegen.
Vater kann das Arbeiten nicht sein lassen und gondelt während des Sommers durch die halbe Welt. Es ist niemand zuhause.
Meine Oma hat mich eingeladen, die Ferien bei ihr zu verbringen, aber ich will nicht. Ich weiß nicht, warum, aber ich will nicht zu ihr fahren. Will sie nicht sehen. Wieso nicht?
Ich bin sogar froh, dass ich meine Eltern nicht sehen muss. Sie würden es bemerken. Auch vor Oma könnte ich es nicht geheim halten. Und ich bin mir nicht mehr sicher. Gar nicht
sicher.
Ich muss an Pater Benedikt denken. Wie hätte er reagiert? Wie hätte er mich bestraft? Wäre er mir anders begegnet als Pater Ignatius, der mich mit eisiger Kälte beobachtet
und jeden spüren lässt, dass mit mir etwas nicht stimmt?
Warum bin ich so ruhig? Wird man ruhig, wenn man keine Hoffnung mehr hat?
St. Thomas, 2. Juli 1975
Er riecht nicht! Wieso riecht er nicht? Egal, was ich tue, er riecht kein bisschen nach Zuhause. Ich kann ihn zerreiben, trocknen, mich darin wälzen, aber der Waldmeister bleibt geruchlos.
Ich fühle mich allein, kann nicht mehr. Kann nicht mehr.
Es ist durchgesickert. Frederik und seine Meute haben mich vor ihrer Abreise abgefangen und mir eine Abreibung verpasst. Hat Jens es ihnen erzählt? Um sich an mir zu rächen, weil ich
ihn geschlagen habe? Oder stimmt es, dass manche Schüler an den Beichtstuhl heranschleichen und sich anhören, was wir uns von der Seele reden?
Es sollte mich nicht kümmern. Gar nicht. Ob sie es wissen oder nicht, der Makel verschwindet nicht. Niemand, nach dem ich greifen kann.
Pater Ignatius hat recht: Die Kette des Kreuzes ist nicht ohne Grund zerrissen. Aber ich glaube nicht, dass es geschehen ist, weil Oma schlecht ist. Ich glaube, es ist geschehen, weil ich
schlecht bin.
St. Thomas, 6. Juli 1975
Es gibt keine Berliner Weiße mehr. Nur noch verfaultes Wasser. Verdorben wie ich.
Meine Schuld kann nicht gesühnt werden. Das weiß ich inzwischen. Ich kann nicht mein ganzes Leben damit zubringen, Toiletten zu putzen oder mir die Hände abzubinden.
Mein Waldspaziergang war kurz und eigenartig. Der Trost ist verschwunden. Der Waldmeister, in dem Jens und ich gelegen haben, hat sich nicht wieder aufgerichtet. Wir haben die Pflanzen
zerstört.
Ich muss zum Gespräch mit Pater Ignatius und einigen anderen. Sie sagen, sie machen sich Sorgen um mich. Ich hätte die Hoffnung verloren. Da haben sie recht.
St. Thomas, 9. Juli 1975
Manchmal braucht es Hilfe, um zu sehen. Sie haben mich sehen lassen. Da waren so viele Stimmen. Ich solle mich mehr bemühen. Ich ginge durch eine schwierige Phase meines Lebens und es
wäre eine Prüfung meines Glaubens.
Keiner von ihnen kann ahnen, dass es zu spät für mich ist. Es hat mich nicht wie eine Grippe angeflogen. Es ist in mir, solange ich denken kann. Vielleicht habe ich es immer gewusst.
Man kann das, was man ist, nicht ändern wie eine Haarfarbe.
Nein, das habe ich ihnen nicht gesagt. Ich habe mich nicht getraut, denn ich hätte es nicht ertragen, die milde Besorgnis und Redlichkeit auf ihren Gesichtern zu Ekel werden zu sehen.
Ich habe die Nacht auf Knien in der Kapelle verbracht. Weitere Nächte werden folgen. Es wird nicht helfen.
St. Thomas, 11. Juli 1975
Es gab einen Augenblick, in dem ich dachte, es sei echt. Die Hand, die sich um meine Kehle legt und mich auf den Altar wirft. Die mir die Hose aufschneidet und das Messer an meine Genitalien
setzt. Eine Stimme, die schreit: „Fahre aus diesem Körper!“
Ich muss eingeschlafen sein. Es fällt mir schwer, zwischen Schlaf und Wachsein zu unterscheiden. Sie halten mich wach.
Habe ich es verdient? Gott, sag mir, habe ich das verdient?
St. Thomas, 29. Juli 1975
Gott schweigt – und ich habe nichts mehr zu sagen.
Berlin, 1. Februar 1984
Nach all den Jahren hat dieses kleine Buch also den Weg zu mir zurückgefunden. Ich konnte es nicht fassen, als ich es aus dem Briefkasten zog. Es gab keinen Absender. Anscheinend
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