Kraft des Bösen
alles über Germantown hören - das Gute und das Schlechte.«
»Schon«, sagte ihr Reisebegleiter, »ich werde mir noch einen Drink bestellen.« Er winkte die Stewardeß her. »Sind Sie sicher, daß Sie nichts möchten?«
»Ich glaube, ich nehme eine Cola«, sagte Natalie.
Er bestellte die beiden Getränke und wandte sich mit einem Grinsen wieder zu ihr um. »Nun gut«, sagte er. »Wenn ich Ihr offizieller Führer durch Philadelphia sein soll, sollten wir uns zumindest bekannt machen .«
»Ich bin Natalie Preston«, sagte Natalie.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Miß Preston«, sagte ihr Sitznachbar mit einem höflichen Nicken. »Mein Name ist Jensen Luhar. Zu Ihren Diensten.«
Die Boeing 727 flog weiter nach Osten und brauste mühelos in die rasch näher kommende Winternacht hinein.
17. Kapitel
Alexandria, Virginia: Donnerstag, 25. Dezember 1980
Sie kamen am Weihnachtsmorgen kurz nach zwei Uhr zu Aaron Eshkol und seiner Familie.
Aaron hatte unruhig geschlafen. Kurz nach Mitternacht war er aufgestanden, nach unten gegangen und hatte ein paar Weihnachtsplätzchen gegessen, die sie von ihren Nachbarn, den Wentworths, geschenkt bekommen hatten. Es war ein erfreulicher Abend gewesen; das dritte Jahr nacheinander, in dem sie gemeinsam mit den Wentworths und Don und Tina Seagram am Heiligabend gegessen hatten. Aarons Frau Deborah war Jüdin, aber sie nahmen ihre Religion beide nicht besonders ernst; Deborah war unbehaglich zumute, weil sich Aaron immer noch als Zionisten betrachtete. Sie paßt gut nach Amerika, hatte Aaron schon oft gedacht. Sie sieht jeden Aspekt eines jeden Problems. Sie sieht sogar Aspekte, die gar nicht da sind. Aaron fühlte sich bei Botschaftsempfängen immer unwohl, wenn Deborah den Standpunkt der PLO verteidigte. Nein, nicht der PLO, verbesserte sich Aaron, während er das dritte und letzte Plätzchen aß - der Palästinenser. Nur um der Diskussion willen, sagte sie immer, und sie war gut im Diskutieren - besser als Aaron, der manchmal dachte, daß er in nichts gut war, außer im Umgang mit Codes und Chiffren. Onkel Saul freute sich immer darauf, wenn er mit Deborah diskutieren konnte.
Onkel Saul. Vier Tage lang überlegte er jetzt shon, ob er das scheinbare Verschwinden seines Onkels bei Jack Cohen melden sollte, seinem Vorgesetzten und Leiter des Mossad- Stützpunkts in der Botschaft in Washington. Jack war ein kleinwüchsiger, kahler Mann, der eine Aura zerstreuter, etwas linkischer Liebenswürdigkeit verströmte. Außerdem war er Captain der Einsatztruppe gewesen und hatte am Unternehmen Entebbe vor vier Jahren teilgenommen, und darüber hinaus sollte er angeblich das Superhirn sein, dem es gelungen war, im Jom-Kippur-Krieg eine ganze ägyptische SAM-Raketeneinheit in die Gewalt zu bekommen. Jack würde wissen, ob Sauls Verschwinden ernste Hintergründe hatte oder nicht. Aber Levi drängte auf Vorsicht. Aarons Freund in der Chiffrierabteilung, Levi Cole, hatte die Fotos gemacht und Aaron bei der Identifizierung geholfen. Levi war außer sich - er war überzeugt, daß Aarons Onkel in etwas ganz Großes hineingestolpert war -, aber er wollte sich nicht an Jack Cohen oder Mr. Bergman, den Attache der Botschaft, wenden, wenn er nicht über detailliertere Informationen verfügte. Levi hatte Aaron unauffällig geholfen, am vergangenen Sonntag sämtliche Hotels bei der vergeblichen Suche nach Saul Laski abzuklappern.
Um zehn nach eins schaltete Aaron das Küchenlicht aus, überprüfte die Anzeige der Alarmanlage in der unteren Diele, legte sich ins Bett und starrte die Decke an.
Die Zwillinge waren mehr als enttäuscht gewesen; Aaron hatte Rebecca und Reah gesagt, daß Onkel Saul am Samstagabend zu Besuch kommen würde. Saul kam nicht öfter als drei- bis viermal im Jahr von New York her, aber Aarons Zwillingstöchter freuten sich jedesmal darauf. Wofür Aaron durchaus Verständnis hatte; er konnte sich noch erinnern, wie er sich als Junge in Tel Aviv auf die Besuche von Onkel Saul gefreut hatte. Jede Familie sollte einen Onkel haben, der die Kinder nicht nur beschenkte, sondern ihnen zuhörte, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatten, der immer die richtigen Geschenke mitbrachte - nicht unbedingt große, sondern welche, die die wahren Interessen des Kindes widerspiegelten - und der Witze und Geschichten mit dem trockenen, leisen Tonfall erzählen konnte, der soviel erfreulicher war als die gezwungene Heiterkeit vieler Erwachsener. Es sah Saul nicht ähnlich, daß er sich so
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