Kraft des Bösen
Welche Möglichkeiten die Beziehung auch bereithalten mochte, dies war nicht die Stunde. Jeder Instinkt im Körper und Geist des Sheriffs schrie auf, er solle Natalie Preston aus Charleston fortschaffen, fort von dem Wahnsinn, der sich rings um sie herum abspielte. Gentrys Instinkte waren stets exzellent gewesen; sie hatten ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Er vertraute ihnen auch jetzt.
Er ging ein großes Risiko ein, indem er sie in seinem Haus übernachten ließ, aber er wußte keine andere Möglichkeit, auf sie aufzupassen, bis er sie am Morgen in das Flugzeug setzen konnte. Jemand folgte ihm ... nein, nicht jemand, mehrere Jemande. Bis gestern war er nicht sicher gewesen - Mittwoch, Heiligabend. Am Morgen war er über neunzig Minuten lang herumgefahren, hatte die Tatsache bestätigt gefunden und die Fahrzeuge identifiziert. Es war nicht so plump wie in der vorigen Woche; die Beschattung wurde sogar derart unauffällig und professionell durchgeführt, daß sie Gentry lediglich wegen seines gesteigerten Verfolgungswahns aufgefallen war.
Es waren mindestens fünf Autos im Spiel; eines ein Taxi, die anderen vier so unauffällig, wie Detroit sie nur herstellen konnte. Aber drei waren dieselben, mit denen er schon tags zuvor Katz und Maus gespielt hatte. Ein Fahrzeug folgte ihm - weit hinten, ohne je näher zu kommen -, bis er die Richtung unvermittelt wechselte, dann übernahm ein anderes. Gentry brauchte zwei Tage, bis ihm aufging, daß das Verfolgungsfahrzeug sich manchmal vor ihm befand. Er wußte, um eine derart umfassende Beschattung möglich zu machen, waren mindestens ein halbes Dutzend Fahrzeuge erforderlich, wahrscheinlich zweimal soviel Personen und eine Funkverbindung. Gentry überlegte, ob die Interne Ermittlungsabteilung der Polizei von Charleston im Spiel sein könnte, verwarf den Gedanken aber rasch; erstens: nichts in seinem Führungszeugnis, seinem Lebenswandel oder dem momentanen Wust von Fällen hätte es gerechtfertigt. Zweitens: der Etat der Polizei von Charleston hätte das nicht zugelassen. Drittens: die Polizisten, die er kannte, hätten einen Verdächtigen nicht so gut beschatten können, selbst wenn es um ihr Leben gegangen wäre.
Wer blieb dann noch? FBI? Gentry konnte Richard Haines nicht ausstehen und traute ihm auch nicht, aber er wußte keinen Grund, weshalb das FBI einen Sheriff aus Charleston wegen der Flugzeugexplosion oder den Morden im Mansard House verdächtigen sollte. CIA? Gentry schüttelte den Kopf und sah zur Decke.
Er war gerade eingeschlafen, döste leicht - und träumte, er wäre wieder in Chicago, wo er versuchte, einen Hörsaal in der Universität zu finden -, als Natalie schrie.
Gentry packte die Ruger und stapfte den Flur entlang, noch ehe er richtig wach war. Ein zweiter, etwas gedämpfter Schrei ertönte, dann ein Schluchzen. Gentry sank neben der Tür auf die Knie, drehte am Knopf - nicht abgeschlossen - und stieß die Tür auf, während er sich gleichzeitig zurücklehnte, aus der Schußlinie. Vier Sekunden später ging er geduckt kauernd hinein und hielt die Ruger hin- und herschwenkend vor sich.
Natalie war allein, saß im Bett, schluchzte und hatte das Gesicht in den Händen vergraben, Gentry sah sich im Zimmer um, vergewisserte sich, daß das Fenster geschlossen war, legte die Ruger leise auf den Nachttisch neben sie und setzte sich neben sie auf die Bettkante.
»Es ... es ... es tut mir leid«, stammelte sie unter Tränen. In ihrer Stimme klang keine Hysterie mit, nur Angst und Verlegenheit. »Je . jedes . jedesmal, wenn ich ein . einschlafe, greifen die Ar ... Arme dieses Mannes über die Sitzlehne nach mir ...« Sie zwang sich, aufzuhören zu schluchzen, bekam einen Schluckauf und tastete auf dem Nachttisch nach der Kleenexschachtel.
Gentry legte den linken Arm um sie. Sie blieb einen Moment steif, dann lehnte sie sich an ihn, ihr Haar berührte gerade noch sein Kinn und die Wange. Ein paar Minuten wurde ihr Körper noch von den Nachwirkungen des ängstlichen Schlotterns geschüttelt, das sie geweckt hatte. »Schon gut«, murmelte Gentry, während er ihr den Rücken streichelte. »Alles ist gut.« Sie zu beruhigen war so angenehm und schön, als würde man ein Kätzchen streicheln.
Einige Zeit später, als Gentry fast eingeschlafen war und sicher schien, daß sie schlief, legte sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Der Kuß war sehr zärtlich, sehr lang und machte sie beide schwindlig. Ihre Brüste drückten sich rund und schwer an
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