Kraft des Bösen
ihn.
Noch später sah Gentry zu ihr hoch, als sie sich auf ihn setzte, den langen Hals und das ovale Gesicht vor stummer Leidenschaft zurückgelegt, ihre Finger fest ineinander verschlungen, und spürte wieder das Zittern, das durch sie lief, durch ihn in ihr, aber dieses Mal kein Zittern der Angst, nein, nicht der Angst .
Natalies Flug nach St. Louis startete zwei Stunden vor Gentrys Flugzeug nach New York. Sie küßte ihn zum Abschied. Beide, im Süden geboren, aufgewachsen und ausgebildet, wußten genau, daß ein weißer Mann und eine schwarze Frau, die sich in der Öffentlichkeit küßten, selbst im Süden des Jahres 1980 für hochgezogene Augenbrauen und stumme Mißbilligung sorgen würden. Keinen scherte es auch nur ein bißchen.
»Abschiedsgeschenke«, sagte Gentry und gab ihr eine Newsweek, eine Morgenzeitung und das zweite Abrufgerät für seinen Anrufbeantworter. »Ich höre gleich heute abend ab«, sagte er.
Natalie nickte, beschloß, nichts zu sagen, drehte sich rasch um und ging den Jetway hinab.
Eine Stunde später, irgendwo über Kentucky, legte sie die Newsweek weg, schlug die Morgenzeitung auf und fand den Artikel, der ihr Leben für alle Zeiten verändern sollte. Er stand auf Seite drei.
PHILADELPHIA (AP)
Die Polizei von Philadelphia hat immer noch keine stichhaltigen Hinweise oder Verdächtige im Fall des Heiligabend-Massakers an vier jugendlichen Bandenmitgliedern in Germantown - ein Verbrechen, das Detective Lieutenant Leo Hartwell von der Mordkommission als >eines der gräßlichsten Gemetzel, die ich in meinen zehn Jahren im Dienst gesehen habe<, bezeichnete.
Vier Mitglieder der jugendlichen Straßenbande >Soul Brickyard< wurden am Weihnachtsmorgen ermordet auf dem Marktplatz von Germantown aufgefunden. Die Namen der Opfer und Einzelheiten des vierfachen Mordes wurden zwar noch nicht offiziell bekanntgegeben, aber man weiß, daß alle Opfer zwischen vierzehn und siebzehn Jahre alt waren und ihre Leichen verstümmelt wurden, Lieutenant Hartwell, leitender Ermittler des Falles, wollte Aussagen weder bestätigen noch bestreiten, wonach alle vier Jungs enthauptet worden seien. »Wir haben eine gründliche laufende Untersuchung eingeleitet«, sagte Captain Thomas Morano, Chief der Mordkommission von Germantown. »Wir folgen sämtlichen Hinweisen.«
Das Viertel Germantown von Philadelphia kann auf eine lange Geschichte von Gewalttaten mit zwei Todesfällen 1980 und sechs Morden im Jahre 1979 zurückblicken, die alle auf Bandenkriege zurückgeführt werden. »Das Heiligabend-Massaker kommt überraschend«, sagte Rev. Paul Woods, Direktor des Covenant Settlement House in Germantown. »Bandenkriege waren in den vergangenen zehn Monaten rückläufig, und mir ist nichts von derzeitigen Auseinandersetzungen oder Vendettas bekannt.«
Die >Soul Brickyard<-Bande ist eine von Dutzenden Jugendbanden im Gebiet Germantown und besteht angeblich aus Vollmitgliedern und etwa doppelt so vielen Mitläufern. Wie die meisten Straßenbanden in Philadelphia kann auch sie auf eine lange Vorgeschichte von Zusammenstößen mit den hiesigen Behörden zurückblicken, obwohl in den letzten Jahren Versuche unternommen wurden, das öffentliche Bild solcher Jugendbanden durch von der Stadt finanzierte Programme wie Covenant House und Community Access zu verbessern. Alle vier ermordeten Jugendlichen waren Mitglieder der >Soul Brickyard<-Bande.
Natalie wußte augenblicklich, instinktiv und ohne jeden Zweifel, daß das etwas mit Melanie Fuller zu tun hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie die alte Frau aus Charleston in Bandenkriege in Philadelphia verwickelt sein konnte, aber sie spürte wieder die Hände am Hals und hörte das warme, zischelnde Flüstern in ihrem rechten Ohr: »Willst du die Frau finden? Dann such in Germantown.«
Auf dem St. Louis International Airport - den die Einheimischen immer noch Lambert Field nannten - dachte Natalie nach und setzte ihre Gedanken in die Tat um, ehe ihre Angst zu groß dazu wurde. Sie wußte, wenn sie Frederick angerufen und ihre Freunde getroffen hatte, würde sie nicht mehr weggehen. Natalie machte die Augen zu und rief sich das Bild ihres Vaters ins Gedächtnis, der allein und mit noch ungeschminktem Gesicht in dem menschenleeren Bestattungsunternehmen lag, wo der gereizte Bestattungsunternehmer immer wieder sagte: »Wir haben erst morgen mit Familienangehörigen gerechnet.«
Natalie löste mit ihrer Kreditkarte ein Ticket für die nächste TWA-Maschine nach Philadelphia. Sie sah
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