Kraft des Bösen
konnte spüren, daß er angezogen war und wieder seine Brille trug. Männer unterhielten sich leise, gelegentlich war das Rauschen von Funkverkehr zu hören. Saul ließ die Augen geschlossen, sammelte seine Gedanken und hoffte, seine Häscher würden nicht bemerken, daß die Wirkung des Betäubungsmittels abklang.
»Wir wissen, daß Sie wach sind«, sagte ein Mann ganz in der Nähe. Die Stimme klang seltsam vertraut.
Saul schlug die Augen auf, drehte den Hals unter Schmerzen, rückte die Brille zurecht. Es war Nacht. Er und drei weitere Männer saßen in der Passagierkabine eines luxuriösen Helikopters. Pilot und Copilot waren ins rote Licht der Instrumente getaucht. Hinter dem Fenster zur Rechten konnte Saul nichts erkennen. Auf dem Sitz rechts von ihm saß Special Agent Richard Haines mit einem Aktenkoffer auf dem Schoß und las im Schein einer winzigen Leselampe über ihm Zeitung. Saul räusperte sich und leckte sich die trockenen Lippen, aber bevor er etwas von sich geben konnte, sagte Haines: »Wir landen in einer Minute. Macht euch fertig.« Der FBI-Mann hatte noch Spuren eines Blutergusses unter dem Kinn.
Saul dachte an drängende Fragen, stellte sie aber nicht. Er sah nach unten und stellte zum erstenmal fest, daß sein linker Arm mit Handschellen an den rechten von Haines gekettet war. »Wieviel Uhr ist es?« fragte er mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Krächzen war.
»Gegen zehn.«
Saul sah in die Dunkelheit hinaus und ging davon aus, daß es Nacht war. »Welcher Tag?«
»Samstag«, grunzte Haines mit ansatzweisem Lächeln.
»Datum?«
Der FBI-Mann zögerte und zuckte dann die Achseln. »Der siebenundzwanzigste Dezember.«
Saul machte von plötzlichem Schwindelgefühl ergriffen die Augen zu. Er hatte eine Woche verloren. Ihm kam es viel mehr vor. Sein linker Arm und die Schulter taten abscheulich weh. Er sah an sich hinab und nahm zur Kenntnis, daß er einen dunklen Anzug, weißes Hemd und Krawatte trug. Nicht seinen eigenen. Er nahm die Brille ab. Die Gläser stimmten, aber das Gestell war neu. Er betrachtete die fünf Männer eingehend. Haines war der einzige, den er kannte. »Sie arbeiten für Colben«, sagte Saul. Da der Agent nicht antwortete, fuhr Saul fort: »Sie sind nach Charleston geflogen, um zu gewährleisten, daß die dortigen Behörden nicht herausfinden, was wirklich passiert ist. Sie haben Nina Draytons Album aus der Leichenhalle verschwinden lassen.«
»Schnallen Sie sich an«, sagte Haines. »Wir landen.«
Es war einer der schönsten Anblicke, die Saul je gesehen hatte. Zuerst dachte er, es handle sich um einen Luxusdampfer, hell erleuchtet, weiß vor dem Hintergrund der Nacht, der phosphoreszierendes Kielwasser in schwarzgrünem Wasser hinter sich herzog, aber als sich der Helikopter auf das orangerote Kreuz auf dem Achterdeck hinabsenkte, stellte Saul fest, daß es sich um ein privates Schiff handelte, eine Jacht, schlank und weiß und so lang wie ein Football-Feld. Besatzungsmitglieder mit leuchtenden Signallampen in den Händen winkten sie herab, bis der Helikopter sanft im Glanz von Scheinwerfern auf dem Deck aufsetzte. Die vier waren ausgestiegen und entfernten sich von dem Hubschrauber, noch ehe die Rotoren langsamer wurden.
Mehrere Besatzungsmitglieder in Weiß gesellten sich zu ihnen. Als sie aufrecht stehen konnten, schloß Haines die Handschellen auf und ließ sie in die Tasche fallen. Saul rieb sich das Handgelenk unterhalb der tätowierten blauen Nummer.
»Hier entlang.« Die Prozession ging nach oben und auf breiten Laufstegen nach vorne. Sauls Beine waren unsicher, obwohl das Schiff nicht schwankte. Zweimal mußte Haines ihn stützen. Saul atmete die warme, feuchte Tropenluft ein - vom schweren Geruch ferner Vegetation erfüllt - und betrachtete durch offene Türen üppige, luxuriöse Kabinen, Säle und Bars, die sie passierten. Alles war teakholzverkleidet und mit Teppichböden ausgelegt, die Innendekoration mit Messing oder Gold überzogen. Das Schiff war ein schwimmendes Fünf-Sterne-Hotel. Sie kamen an der Brücke vorbei, wo Saul kurz uniformierte Männer bei der Wache sehen konnte, die vom grünen Leuchten elektronischer Instrumente angestrahlt wurden. Ein Fahrstuhl brachte sie zu einer Privatsuite mit Balkon - vielleicht wäre freischwebende Brücke hier der zutreffendere Ausdruck gewesen. Dort saß ein Mann mit teurem weißem Jackett und einem großen Drink. Saul sah an ihm vorbei zu einer Insel, die etwa eine Meile entfernt im dunklen Gewässer
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